Hans-Heinrich Dieter

Afghanisches Dilemma   (01.12.2013)

 

Die Lage in Afghanistan verschlechtert sich in mehrfacher Hinsicht. Die Taliban haben Zulauf und radikalisieren sich derzeit auch im Grenzgebiet von Pakistan. Für Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wird es nach Einschätzung der Vereinten Nationen immer gefährlicher. Die Lage wird als besorgniserregend beurteilt. Seit Beginn wurden 73 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet, verschleppt oder verletzt, seit 1997 die höchste Verlustrate. Die afghanische Armee und Polizei sind seit geraumer Zeit allein dafür verantwortlich, für Sicherheit am Hindukusch zu sorgen. Doch weder die Hilfsorganisationen, die an Entwicklungs- und Wiederaufbauprojekten in der Region arbeiten noch die eigene Bevölkerung vertrauen den afghanischen Sicherheitskräften. Afghanistan ist in dem Dilemma, dass es souverän und eigenverantwortlich ist, ohne dieser Verantwortung in absehbarer Zeit gerecht werden zu können.

Die US-Truppen bekämpfen weiter Terroristen und die NATO-Truppen der ISAF sind hauptsächlich mit den logistischen Herausforderungen des Rückzuges bis Ende 2014 und dessen Sicherung beschäftigt. Im Kampf gegen Terroristen setzen die US-Truppen weiterhin Kampfdrohnen ein und es kommt immer wieder auch zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung. Das führt regelmäßig zu heftigem Streit zwischen Karsai und den USA sowie zu weiterem Ansehensverlust der US-Truppen.

Die westliche Welt fühlt sich verpflichtet, Afghanistan auch nach Abzug der Kampftruppen Ende 2014 umfangreich zu unterstützen. Bisher will die NATO ab 2015 für die Folgemission "Resolut Support" 8.000 bis 12.000 Soldaten bereitstellen, die die afghanischen Sicherheitskräfte beraten und ausbilden. Die USA haben bisher unverbindlich von ca. 5000 Soldaten gesprochen. Die zivile Seite der internationalen Staatengemeinschaft hat sich darauf geeinigt, Afghanistan in einer „Transitionsdekade“ bis 2024 umfangreich zu unterstützen und auch bei der Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte großzügig zu helfen. Die NATO hat an einem Operationsplan gearbeitet, der an sich ab Juni 2013 die Grundlage für die Vorbereitungen der Folgeoperation sein sollte. Die zivile Seite verfügt noch über keine konkrete Planung. Es ist ein Dilemma für Afghanistan, dass die westliche Welt helfen will, Afghanistan aber noch nicht bereit ist, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die amerikanischen Entscheidungen über Größenordnung und Qualität des US-Engagements ab 2015, auf die die westlichen Partner - auch Deutschland - dringend als Grundlage für ihre Planungen warten, sind abhängig von der Unterzeichnung eines Sicherheitsabkommens zwischen Afghanistan und den USA, das den Status der US-Truppen – einschließlich ihrer rechtlichen Immunität - und die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes nach 2015 festlegt. Das Abkommen ist fertig verhandelt, die Loja Jirga hat dem Abkommen zugestimmt und seine Unterzeichnung bis Ende 2013 beschlossen. Der afghanische Präsident Hamid Karsai verweigert aber die Unterschrift mit dem Hinweis darauf, dass die amerikanischen Truppen das Leben und die Sicherheit des afghanischen Volkes aus seiner Sicht nicht respektieren. Er wirft den ausländischen Truppen die Unterdrückung des afghanischen Volkes vor und will, dass der im Frühjahr zu wählende neue Präsident Afghanistans das Abkommen unterzeichnet. Und Karsai legt nach: "Ohne Frieden wird das Abkommen Afghanistan nur Unglück bringen, Frieden ist unsere Vorbedingung. Amerika soll uns Frieden bringen, dann wird es unterzeichnet." Was er damit im Hinblick auf den bisher nicht gelungenen Prozess der innerafghanischen Aussöhnung genau meint, wissen wohl weder Karsai noch seine politisch unglaubwürdige, unfähige und korrupte Regierung. Es wächst sich zu einem afghanischen Dilemma aus, dass die US-Truppen bei Nichtunterzeichnung des Abkommens bis Ende 2013 ihre Truppen möglicherweise bis Ende 2014 komplett abziehen werden, ohne Folgemission und ohne die ins Auge gefasste finanzielle Unterstützung. Und ohne ein Sicherheitsabkommen und ohne die USA wird es auch keine NATO-Folgemission geben. Die zivile Seite der internationalen Staatengemeinschaft wird aufgrund der dann nicht zu garantierenden Sicherheit für Hilfsorganisationen die ins Auge gefasste umfangreiche Unterstützung in der „Transitionsdekade“ bis 2024 nicht leisten können.

Die Große Ratsversammlung in Kabul hat das offenbar erkannt und Karsai ebenfalls zu einer Unterzeichnung noch in diesem Jahr aufgefordert. Karsai missachtet dieses Votum ganz offen, er spielt mit der Zukunft des afghanischen Volkes. Und das geschundene afghanische Volk wird weiter terrorisiert mit wenig Grund zu Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.

Dieses afghanische Dilemma-Bündel ist auch ein Dilemma der westlichen Welt, denn ein Komplettrückzug bis Ende 2014 und ein den Taliban schutzlos ausgeliefertes Afghanistan wäre eine dramatische Niederlage der westlichen Staatengemeinschaft. Karsai weiß das und pokert unverschämt und unverantwortlich hoch.

(01.12.2013)

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte