Hans-Heinrich Dieter

Der Libyen-Prozess   (20.01.2020)

 

Im Oktober 2011 wurde Libyen von Gaddafi und seinem Clan befreit und der „libysche Frühling“ erlebt ein Zwischenhoch. Nachdem das eigentliche, nicht offiziell aber plakativ und peinlich oberflächlich formulierte Ziel "Gaddafi muss weg" erreicht war, konnte auch NATO-Generalsekretär Rasmussen seinen Freunden z.B. twittern: „Game over!“ sowie offiziell und aus seiner Sicht stolz verkünden, der siebenmonatige NATO-Einsatz ohne eigene Verluste sei ein großer Erfolg gewesen,  „Wir haben das Mandat voll erfüllt“.

Tatsächlich gab es im „libyschen Frühling“ aber viele „Frostnächte“, die solche Schönfärbereien Lügen strafen. Libyen wurde durch die Kämpfe ziemlich zerstört, es sind nach Angaben des Ãœbergangsrates ca. 30.000 Tote zu beklagen, darunter viele Zivilisten. Während der Kämpfe ist nicht erkennbar gewesen, dass die Rebellen bewusst Rücksicht auf Zivilbevölkerung in umkämpften Stadtteilen genommen hätten. Auf dem Vormarsch haben die Aufständischen teilweise wahllos Jagd auf Schwarzafrikaner gemacht und Lynchjustiz geübt auf den bloßen Verdacht hin, es handele sich um von Gaddafi angeheuerte Söldner. Der Umgang mit dem gefangenen Gaddafi und die Ermordung des Despoten waren menschenverachtend sowie Menschenrecht verletzend und haben im Zusammenhang mit den bisher von Human Rights Watch und vom Roten Kreuz aufgedeckten Massakern der Rebellen gezeigt, dass es sich bei einem Teil der Rebellen nicht um hehre Freiheitskämpfer sondern um undisziplinierten bewaffneten Mob handelt. Es gibt also sehr viel Grund, den Bürgerkrieg vorurteilsfrei aufzuarbeiten und daraus die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Ohne eine objektive Untersuchung und Aufklärung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen wird der libysche Neuanfang stark und dauerhaft belastet. Die „Aufarbeitung“ hat ganz offensichtlich noch nicht wirklich begonnen.

In Anbetracht der Lage erweist sich dann die Aussage der NATO "Wir haben das Mandat voll erfüllt" als höchst fragwürdig. Auch weil die NATO das Waffenembargo nicht durchgesetzt hat, denn Frankreich und andere europäische Länder konnten die Rebellen mit Waffen und Munition versorgen. Das UN-Mandat sah auch den Einsatz von Bodentruppen ausdrücklich nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass die NATO zumindest wusste, dass französische, englische und italienische Spezialkräfte und Ausbilder die Rebellen vielfältig unterstützt haben. In diesen Fällen hat die NATO entweder das Mandat nicht erfüllt oder dessen Ausdehnung durch NATO-Mitglieder zumindest nicht unterbunden. Die UN-Resolution 1973 hatte die NATO außerdem nur ermächtigt, alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu ergreifen. De facto war die NATO auch Luftwaffe und Artillerieersatz der Rebellen und hat als Kriegspartei in diesem Bürgerkrieg die Eroberung der libyschen Städte durch die Rebellen erst ermöglicht. In dem Zusammenhang hat die NATO mehr als 10.000 Luftangriffe geflogen. Beim Verlust von 30.000 Menschen kann man sich da auch die kritische Frage stellen, ob die Luftangriffe nicht ggf. mehr Opfer verursacht als verhindert haben. An der nachhaltigen Beschädigung der Infrastruktur Libyens hat die Mission „Unified Protector“ sicher erhebliche Anteile. Deutschland hat vor neun Jahren die UN-Resolution nicht mitgetragen und war nicht bereit, an der Seite Frankreichs, Italiens und Großbritanniens das Regime des libyschen Diktators Gaddafi mit militärischen Mitteln zurückzudrängen. Das hat man damals Deutschland verübelt!

Die Einmischung einiger europäischer NATO-Mitglieder und der NATO selbst mit der Mission „Unified Protector“ in den libyschen Bürgerkrieg war ein fataler Misserfolg mit schlimmen und anhaltenden Folgen für die libysche Bevölkerung. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung leidet an Unterernährung und lebt von internationaler Hilfe. Das Land ist inzwischen ein „failed state“, versinkt im Chaos und leidet unter einem anhaltenden Bürgerkrieg, der sich zu einem Stellvertreterkrieg weiterentwickelt hat. Da ist es als wirklicher Erfolg zu werten, dass Deutschland als „ehrlicher und unbelasteter Makler“ die Libyen-Konferenz in Berlin zustande und fast alle wichtigen Staats- und Regierungschefs sowie die UN, die EU, die OAS und die Arabische Liga an den Konferenztisch gebracht hat, um hauptsächlich eine dauerhafte Waffenruhe und die konsequente Umsetzung des Waffenembargos, aber auch Reformen in den Bereichen Wirtschaft und Sicherheit zu gewährleisten. Die NATO hat leider gefehlt! Ein UN-Papier wurde von allen Konferenzteilnehmern als Abschlusserklärung unterzeichnet, das stimmt schon zaghaft optimistisch. Es sind aber bisher nur erste diplomatische Schritte getan. Jetzt muss durch zähe Verhandlungen die reale Lage Libyens verbessert werden.

Die politische Verantwortung, die Deutschland übernommen hat, endete also nicht mit dieser Konferenz. Wir müssen uns weiter engagiert in diesen Prozess einbringen. Dabei ist es ganz wichtig, dass die UN und die EU immer in diesen Prozess einbezogen bleiben. Und wenn bei einer möglichen Stabilisierungs-mission oder zur konsequenten Überwachung des Waffenembargos ein militärischer Einsatz erforderlich wird, dann sollte die NATO - und mit Schwerpunkt die damaligen Interventionsmächte Frankreich, Großbritannien und Italien - herangezogen werden, um den damaligen Misserfolg auszubügeln und einen Beitrag zur Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung zu leisten.

Schnelle Erfolge sind unwahrscheinlich. Ständige und beharrliche Bemühungen können aber zu kleinen Fortschritten führen. Und auch wenn Deutschland immer wieder betont, dass der Libyen-Konflikt militärisch nicht zu gewinnen ist, wird es ohne den Einsatz militärischer Mittel keinen Erfolg bei der Schaffung einer stabilen Nachkriegsordnung für Libyen geben, denn wer neben den diplomatischen Aktivitäten auch auf militärische Mittel im Land zurückgreifen kann, wird seine Interessen erfolgreich vertreten können. Deswegen wird die NATO bei einer möglichen Stabilisierungsmission oder zur konsequenten Überwachung des Waffenembargos unbedingt gebraucht!

Und die EU muss diesen Libyen-Prozess als Chance begreifen, endlich zu einer tatsächlich gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu finden!

(20.01.2020)

 

Bei Interesse an der Geschichte des Konflikts lesen Sie auch:

http://www.hansheinrichdieter.de/html/libyen-desaster.html

 

 

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