Hans-Heinrich Dieter

Desolate EU   (17.11.2018)

 

2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Das war im 55. Jahr ihres Bestehens. In dieser Zeit hat sich die EU tatsächlich um Frieden und Versöhnung verdient gemacht und den Preis verdient. Ob die EU in ihrer heutigen desolaten Verfassung und angesichts ihrer hilflosen Untätigkeit sowie erfolglosen Politik zum Beispiel im Zusammenhang mit dem syrischen Bürgerkrieg noch für diesen Preis infrage käme, darf stark bezweifelt werden.

Wie häufig bei der EU hat man den Eindruck, dass mit vollmundigen Reden positives Denken initiiert und Hoffnung erzeugt werden sollen, um von der derzeit desaströsen Lage der EU, die durch Spaltungstendenzen, durch unsolidarisches Verhalten zunehmend nationalistisch ausgerichteter Mitgliedstaaten, strukturelle Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit sowie durch eine wenig leistungsfähige Führung gekennzeichnet ist, abzulenken. Die Reden über die Wertegemeinschaft, über Solidarität und über Toleranz wirken daher wenig glaubwürdig.

Warum darf man eigentlich von einer desaströsen Lage der EU sprechen? Die europäische Union hat mit Juncker einen schwachen Kommissionspräsidenten, der schon länger als „lame duck“ auftritt – wenn er kann. Der EU-Rats-Präsident Tusk hat in seinem Heimatland keinen politischen Rückhalt und kann weder auf Polen noch auf die Visegrad-Staaten positiv einwirken. Die Außenbeauftragte Mogherini ist zwar sehr bemüht, es fehlt aber eine gemeinsam definierte Außen- und Sicherheitspolitik als Rahmenbedingung einer erfolgreichen europäischen Außenpolitik. Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit ist zudem durch die erforderliche Einstimmigkeit bei Entscheidungen und die sich verstärkenden nationalistischen und unsolidarischen Tendenzen einiger Mitgliedstaaten sehr stark eingeschränkt. Der drohende Brexit ist nachteilig für die gesamte EU, egal wie oder ob er vollzogen wird. Der Eurozone droht eine nächste Finanzkrise hauptsächlich durch die desaströse wirtschaftliche Lage Italiens, aber auch durch die überzogene Niedrigzinspolitik der EZB, zum erheblichen Nachteil für die Sicherung der Altersversorgung der EU-Bürger.

Und die Lage in den Mitgliedsländern macht auch keine große Hoffnung für eine gute Zukunft. Deutschland als wirtschaftsstärkste europäische Mittelmacht spricht zwar immer davon, mehr Verantwortung auch in der Sicherheitspolitik übernehmen zu wollen, schafft aber dafür nicht die erforderlichen Grundlagen. Deutschland verfügt nicht über eine definierte außenpolitische Zielsetzung und hat auch keine Strategien für sicherheitspolitisches Engagement entwickelt. Deutschland hat seine Streitkräfte über Jahre unterfinanziert und kann mit dem „Sanierungsfall“ Bundeswehr die Verpflichtungen gegenüber der NATO nur eingeschränkt erfüllen. Und Deutschland hat keine klaren Vorstellungen, wie und in welche Richtung es die Weiterentwicklung der EU unterstützen will. Frankreich hat einen vollmundigen Präsidenten, der aber hinsichtlich der Reform der französischen Wirtschaftsstruktur sehr wenig erreicht hat und der sich mit seiner Politik nicht gegen die starken sozialistischen und nationalistischen Außenflügel durchsetzen kann und daher sehr stark an Rückhalt verliert. Die gut klingenden Vorschläge, die Macron macht, sind stets nur mit sehr großem Engagement anderer Mitgliedstaaten – allen voran Deutschland - zu realisieren. In der Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt Frankreich erkennbar stark Eigeninteressen. La Grande Armee verfügt zwar über Nuklear-Fähigkeiten und auch über maritime Interventionsmöglichkeiten, aber nur von regionaler Qualität. Und auch der deutsch-französische EU-Motor läuft aufgrund von Fehlzündungen ständig unrund.

Italien steht wirtschaftlich und finanziell am Abgrund, verweigert sich einer rationalen Zusammenarbeit mit der EU und wird sich mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit zu einem längerfristigen Problemfall entwickeln. Griechenland ist wirtschaftlich und finanziell noch lange nicht stabil und wird noch für längere Zeit ein Problemfall bleiben. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die sogenannte Visegrad-Gruppe, die gelegentlich durch Österreich verstärkt wird, entwickeln sich nationalistisch, teilweise egozentrisch und in rechtsstaatlicher Hinsicht entgegengesetzt zu den Wertvorstellungen der EU. Solidarität ist von diesen Mitgliedern nur zu erwarten, wenn sie nationale Vorteile sehen.

Spanien, Portugal, Zypern und Irland arbeiten noch hart an ihrer wirtschaftlichen Konsolidierung, sind aber auch noch nicht über dem Berg. Belgien ist aufgrund seines Nationalitätenstreites nicht hinreichend stabil. Die Niederlande, Luxemburg, Irland und Malta machen Steuervermeidungspolitik zum Nachteil anderer EU-Mitgliedstaaten. Rumänien und Bulgarien hätte man überhaupt nicht aufnehmen dürfen, da sie 2007 die Kriterien nicht erfüllt haben. Kroatien und Slowenien sind innenpolitisch instabil.

Dänemark, Schweden und Finnland haben auch hauptsächlich innenpolitische Probleme, die sie als Mitglieder beeinträchtigen. Die baltischen Staaten hingegen haben sich in die EU gut eingefunden.

Diese EU ist mehrfach gespalten in den wirtschaftsstärkeren Norden und den weniger leistungsstarken Süden mit gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Die EU hat eine Euro-Zone und eine Reihe Länder mit eigener Währung. Die Flüchtlings- und Migrations-Krise hat die Mitgliedsländer nachhaltig auseinanderdividiert und den Schengen-Raum brüchig werden lassen. Und die effektive Sicherung der EU-Außengrenzen ist längst nicht gewährleistet.

Und diese in vielerlei Hinsicht heterogene und heillos zerstrittene Europäische Gemeinschaft redet von einer „richtigen europäischen Armee“, die die Mitgliedstaaten auch gegen Russland verteidigen können soll! Eine pure Illusion - ein europäisches Wolkenkuckucksheim!

Wir brauchen eine überlebensfähige und handlungsstarke EU. Das erfordert aber weniger euphorische Reden zur Weiterentwicklung auf der Basis der derzeitigen Struktur, sondern echte Struktur-Reformen, um die EU wirklich handlungsfähig zu machen und deswegen wollen die Bürger überzeugt werden, dass die EU über die dringend notwendigen Reformen wirklich bereit und in der Lage ist, die Probleme anzupacken, nachhaltig zu lösen und das Leben der EU-Bürger zu verbessern.

Und in diesem Zusammenhang sollte die EU zu einer realitätsnahen, ehrlichen Erweiterungspolitik finden und angesichts der Entwicklung der Türkei hin zu einem autokratischen Präsidialsystem die Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft endlich beenden  und die EU-Zahlungen an die Türkei für Beitrittshilfen und Strukturentwicklung sofort einstellen. An die Stelle des Beitrittsprozesses sollte die Erarbeitung eines Vertrages treten, der die zukünftige politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem für Europa durchaus wichtigen Pufferstaat zu Asien und der arabischen Welt grundlegend regelt.

Ein solches Verfahren muss auch bei anderen Beitrittskandidaten - wie den Westbalkan-Staaten - angewandt werden, die aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen absehbar keine realistische Chance haben, mittelfristig Vollmitglieder der EU zu werden. Ein solches Verfahren ist ehrlicher, erspart der jeweiligen Bevölkerung Enttäuschungen und ermöglicht sehr viel früher eine für beide Seiten fruchtbringende Zusammenarbeit.

Die EU muss handlungsfähig werden und darf nicht im Dauerkrisenmodus verharren. Dazu muss die EU ihre Struktur grundlegend ändern und darf sich nicht überdehnen. Gleichzeitig darf die EU sich nicht abschotten, sondern muss eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit einer tiefer integrierten Kern-EU mit europäischen Partnern auf der Grundlage von Verträgen gewährleisten.

Die Erfahrungen mit dem „Brexit“ sollten als Chance begriffen werden, die grundlegenden Strukturänderungen anzupacken!

(17.11.2018)

 

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