Hans-Heinrich Dieter

"Frostnächte" im libyschen Frühling (29.10.2011)

 

Libyen ist von Gaddafi und seinem Clan befreit und der libysche Frühling erlebt ein Zwischenhoch. Nachdem das eigentliche, nicht offiziell aber plakativ formulierte Ziel "Gaddafi muss weg" erreicht ist, kann nun auch NATO-Generalsekretär Rasmussen seinen Freunden z.B. twittern: Game over! und offiziell und stolz verkünden, der siebenmonatige NATO-Einsatz ohne eigene Verluste sei ein großer Erfolg gewesen,  "Wir haben das Mandat voll erfüllt".

Nun gab es im libyschen Frühling durchaus einige "Frostnächte", die die  Blütenträume beeinträchtigen. Libyen ist, dort wo gekämpft wurde, ziemlich zerstört, es sind nach Angaben des Ãœbergangsrates ca. 30.000 Tote zu beklagen, darunter viele Zivilisten. Während der Kämpfe ist nicht erkennbar gewesen, dass die Rebellen bewusst Rücksicht auf Zivilbevölkerung in umkämpften Stadtteilen genommen hätten. Auf dem Vormarsch haben die Aufständischen teilweise wahllos Jagd auf Schwarzafrikaner gemacht und Lynchjustiz geübt auf den bloßen Verdacht hin, es handele sich um von Gaddafi angeheuerte Söldner. Der Umgang mit dem gefangenen Gaddafi und die Ermordung des Despoten waren menschenverachtend sowie Menschenrecht verletzend und haben im Zusammenhang mit den bisher von Human Rights Watch und vom Roten Kreuz aufgedeckten Massakern der Rebellen gezeigt, dass es sich bei einem Teil der Rebellen nicht um hehre Freiheitskämpfer sondern um undisziplinierten bewaffneten Mob handelt. Die sehr zögerliche Haltung des Ãœbergangsrates im Hinblick auf die Aufklärung solcher Verbrechen spricht gegen die derzeitigen Machthaber, die möglicherweise abwarten wollen, bis die Aufräumarbeiten seriöse Ermittlungen der Verbrechen unmöglich machen. Die tagelange öffentliche Zurschaustellung der Leiche Gaddafis im Kühlraum eines Supermarktes war unmenschlich und unwürdig. Zumindest Präsident Obama kritisierte die Art, wie der tote Diktator öffentlich zur Schau gestellt wurde, „Es gibt einen bestimmten Anstand, mit dem Tote behandelt werden müssen“. Solchen Anstand kennt der Ãœbergangsrat offenbar nicht. Auch wenn die Fakten noch nicht hinreichend geklärt sind, haben sich die libyschen Rebellen allem Anschein nach teils schwerer Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Und Libyen ist alles andere als befriedet, denn es wird zum Beispiel in Sirte aktuell von einem "dramatischen Anstieg an Brandstiftungen und Plünderungen" berichtet. Offenbar würden gezielt die Wohnungen von tatsächlichen oder vermuteten Gaddafi-Loyalisten abgefackelt. Es gibt also sehr viel Grund, den Bürgerkrieg vorurteilsfrei aufzuarbeiten und daraus die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Ohne eine objektive Untersuchung und Aufklärung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen wird der libysche Neuanfang stark und dauerhaft belastet.

In Anbetracht der Lage erweist sich dann die Aussage der NATO "Wir haben das Mandat voll erfüllt" als etwas vollmundig und auch fragwürdig. Die NATO hat das Waffenembargo nicht durchgesetzt, denn Frankreich und andere europäische Länder haben die Rebellen mit Waffen und Munition versorgt. Das UN-Mandat sah den Einsatz von Bodentruppen ausdrücklich nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass die NATO zumindest wusste, dass französische, englische und italienische Spezialkräfte und Ausbilder die Rebellen vielfältig unterstützt haben. In diesen Fällen hat die NATO entweder das Mandat nicht erfüllt oder dessen Ausdehnung durch NATO-Mitglieder zumindest nicht unterbunden. Die UN-Resolution 1973 hatte die NATO außerdem nur ermächtigt, alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu ergreifen. De facto war die NATO auch Luftwaffe und Artillerieersatz der Rebellen und hat als Kriegspartei in diesem Bürgerkrieg die Eroberung der libyschen Städte durch die Rebellen erst ermöglicht. In dem Zusammenhang hat die NATO mehr als 10.000 Luftangriffe geflogen. Beim Verlust von 30.000 Menschen kann man sich da auch die kritische Frage stellen, ob die Luftangriffe nicht ggf. mehr Opfer verursacht als verhindert haben. An der nachhaltigen Beschädigung der Infrastruktur Libyens hat die Mission Unified Protector sicher erhebliche Anteile.

Bei aller Freude über den unzweifelhaften Erfolg des Sturzes Gaddafis sollte die NATO nicht vergessen, dass sie bis 31.10.2011 Bürgerkriegspartei war und "mitverantwortlich" ist für die Lage Libyens. Und da vermisst man mit Recht die unmissverständliche Forderung der NATO an den libyschen Übergangsrat, Menschenrechtsverletzungen jeweils zu unterbinden und Verbrechen lücken- und vorbehaltlos aufzuklären. Eine solche Forderung seitens des NATO-Generalsekretärs Rasmussen ist nicht bekannt. Auch die Vereinten Nationen haben sich diesbezüglich sehr zurückhaltend geäußert. Und die westlichen Staaten, die keine Gelegenheit auslassen, Schwellenländer nachdrücklich auf die Gewährleistung und Einhaltung der Menschenrechte hinzuweisen, halten sich diesbezüglich mit Forderungen an Libyen zurück.

Kanzlerin Merkel oder Außenminister Westerwelle haben sich zu den bekannten Menschenrechtsverletzungen auch noch nicht zu Wort gemeldet. Trotz der ungeschickten Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat, sollten wir im Falle von libyschen Verstößen gegen das Menschenrecht aber auch öffentlich zu unseren Überzeugungen stehen. Demokratien, die die demokratische Entwicklung in Libyen fördern wollen, werden durch Messen mit zweierlei Maß oder bigottes Verhalten nicht glaubwürdiger.

(29.10.2011)

 

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