Hans-Heinrich Dieter

Humanitäre Hilfe mit Berührungsängsten (21.11.2011)

 

Dauerhafter Frieden ist in Afghanistan nur mit stabiler Sicherheit und hinlänglich gesunder Wirtschaft zu gewährleisten. Von beidem ist die leidgeprüfte afghanische Bevölkerung noch weit entfernt. Denn die Taliban sind landesweit keineswegs in der Defensive sondern verstärken ihre Anschläge nach Qualität und Quantität. Afghanistan hat keine Industrie, die mit den Nachbarn Pakistan, Indien und China konkurrieren kann. Vielmehr lebt die Wirtschaft zu über 90 % von Hilfsgeldern und vom Bedarf der internationalen Truppen und die Arbeitslosigkeit liegt bei 40%. Um nach Abzug der internationalen Kampftruppen 2014 einen Einbruch in der Gewährleistung von Sicherheit und einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern, muss die Zeit bis 2014 intensiv für Aufbau und Entwicklung genutzt werden und es werden über viele Jahre umfangreiche finanzielle Unterstützung, Entwicklungshilfe und auch humanitäre Hilfe zwingend erforderlich sein. Bisher sind knapp 60 Milliarden Dollar Entwicklungsgelder seit 2002 nach Afghanistan geflossen, das Fass hat viele Löcher und der Bedarf bleibt hoch.

In dieser Lage, in der jede Hilfe gebraucht wird, hat Rupert Neudeck, der Chef der „Grünhelme“, den Abzug der Hilfsorganisation aus Afghanistan angekündigt. Er verbindet die Bekanntgabe der Entscheidung mit massiver Kritik an der afghanischen Regierung, die sich nicht um das Volk kümmere und nichts für die Entwicklung tue. Neudeck ist bemerkenswert engagiert aber ein radikaler „Humanitärer“, der nicht von „Bewaffneten“ geschützt werden will: „Keine humanitäre Organisation darf sich bewaffnen, sich von Bewaffneten schützen lassen oder auch nur Bewaffnete in eigenen Fahrzeugen transportieren oder sie in ihre Krankenhäuser aufnehmen.“ Diese aus Neudecks Sicht absolut notwendige Trennung von Militär und zivilem Einsatz sieht er nun durch Minister Dirk Niebel bedroht, denn der hat die Hilfsorganisationen, besonders die Nicht-Regierungsorganisationen (NGO), aufgefordert, sich mit ihrer Hilfe in Afghanistan unverzüglich auf das "Mandatsgebiet der Bundeswehr" zu konzentrieren.

Nun hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. In einigen Regionen ist humanitäre Hilfe ohne akute Gefährdung der Helfer nicht mehr möglich. Neudeck stellt fest, es gibt „eigentlich in der Provinz, wo wir dort sind, kaum noch Möglichkeiten weiter zu arbeiten, weil es in den anderen Distrikten viel zu gefährlich geworden ist. Die Regierung hat dort ihre Kontrolle viel zu wenig sichergestellt.“ Außerdem würden neue Gesetze dazu führen, dass die Grünhelme nicht nach eigenem Kostenprinzip arbeiten könnten, sondern teurere einheimische Firmen beschäftigen müssten. Der Chef der Grünhelme glaubt ohnehin, dass erst nach Abzug der ISAF der Aufbau ziviler Strukturen beginnen kann. "Weil Soldaten nicht richtige zivile Wiederaufbauhelfer sind. Sie haben eigentlich wenig gemacht, sie konnten auch gar nicht viel tun, sie waren ausgegrenzt in riesengroßen Kasernen."

Rupert Neudeck ist mit seinen Grünhelmen in Afghanistan ja eigentlich angetreten, um der Bevölkerung Afghanistans bestmöglich zu helfen. Und wenn es um Hilfe für Menschen geht, ist verkrustetes ideologisches Denken immer hinderlich. Die Verantwortlichkeit für die Regionen in Afghanistan ist lange bekannt. Die deutschen Grünhelme engagierten sich in der Region Herat im italienischen Verantwortungsbereich. Da stellt sich die Frage, warum die Grünhelme ihre nützliche und wichtige Hilfe nicht in der Nordregion im deutschen Verantwortungsbereich angeboten haben und ob es sinnvoll ist, dass sich die Grünhelme, wie auch andere NGOs, gegen eine durch das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium koordinierte und durch die Bundeswehr gesicherte gemeinsame und effiziente humanitäre Unterstützung der afghanischen Bevölkerung wenden.

Rupert Neudeck meint auch, erst nach einem Abzug ausländischer Truppen werde sich das Schicksal Afghanistans entscheiden. Da hat er grundsätzlich Recht. Aber selbst wenn bis 2014 alles optimal läuft, werden nach dem Abzug der westlichen Truppen die meisten Krankenhäuser und Schulen nur mit viel ausländischem Geld betrieben werden können. Die Gehälter von Beamten, Ärzten und Lehrern, den Sold von Polizisten und Soldaten wird die internationale Staatengemeinschaft ebenfalls finanzieren müssen. In Zeiten massiver westlicher Schulden-/Wirtschafts- und Finanzkrisen werden allerdings Hilfsmaßnahmen staatlicher und nichtstaatlicher Träger im Sinne und zum Wohl der afghanischen Bevölkerung koordiniert und gebündelt werden müssen. In diesem Orchester sollte jeder bereit sein, mitzuspielen.

Von Ideologie wird kein afghanisches Kind satt!

(21.11.2011)

 

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