Hans-Heinrich Dieter

Katastrophenangst (09.04.2011)

 

Das Leben auf unserem Planeten war schon immer mit Risiken für die Menschen verbunden. Dabei ist sicher zwischen dem realen Risiko und den gefühlten Gefahren zu unterscheiden.

Unser Leben wird durch immer mehr Technik, immer wirksamere chemische Verbindungen und durch immer gravierendere, die Ethik menschlichen Daseins betreffende, Forschungen geprägt. Das macht das Leben in großen Teilen leichter und angenehmer, da aber Technik nicht zu 100 Prozent beherrschbar ist, die Wirkung chemischer Substanzen und Medikamente nicht vollständig bekannt und die Auswirkungen z.B. von Gen-Manipulationen noch nicht hinreichend erforscht sind, bleiben nicht genau definierbare Risiken und das macht den Menschen in Gesellschaften, in denen man sich gerne mit „Rundum-Sorglos-Paketen“ gegen alles mögliche versichert, einfach Angst. Da wir aber inzwischen zumindest von Technik und Chemie sehr weitgehend abhängig sind, führt bei aller Angst kein Weg an einer rationalen Auseinandersetzung mit den Risiken vorbei.

Im Straßenverkehr sind die Menschen bereit, sich bei hohen Geschwindigkeiten einem in nur sehr geringem Abstand vorbeirasenden Gegenverkehr auszusetzen. Die Menschen leben klaglos mit diesem Risiko, die Umstellung auf ausschließlich Einbahnstraßen wäre sicher auch mit zu vielen Unbequemlichkeiten und Kosten verbunden.

Am 1. Juni 2009 verunglückte ein Airbus A330 der Air France über dem Atlantik. Bei dem Absturz wurden 228 Menschen getötet, darunter 28 Deutsche. Der Absturz blieb rätselhaft. Nun hat man erste Wrackteile gefunden und hofft, dass man durch den Datenrekorder nähere Einzelheiten erfährt. Bisher werden für das Unglück eine Unwetterfront und teilweise fehlerhafte Sensoren zur Messung der Geschwindigkeit verantwortlich gemacht. Das Risiko kann erst reduziert werden, wenn man den Fehler genau definiert hat, so weit ist Air France noch lange nicht. Trotzdem nehmen wir das Risiko in Kauf und nutzen weltweit alle möglichen Flugzeuge „sicherer“ oder auch „weniger sicherer“ Airlines für Flüge unter den unterschiedlichsten Rahmenbedingungen.

Die Menschen sind also durchaus bereit, mit Risiken zu leben, wenn es der eigenen Bequemlichkeit oder dem eigenen Vorteil dient bzw. unausweichlich scheint. Die große Anzahl von Menschen, die Risikosportarten betreiben, nehmen Gefahren für einen Kick oder eine Herausforderung sogar ganz bewusst in Kauf. Im Hinblick oder im Zusammenhang mit Katastrophen reagieren die Menschen aber offensichtlich anders.

Naturkatastrophen verändern unsere Erde und haben insbesondere auf Menschen eine verheerende Wirkung. Das Erdbeben auf Haiti, Stärke 7,0 mit ca. 200.000 Toten und die jüngste Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan mit bisher noch nicht zählbaren Verlusten an Menschen, Tieren und Material sowie nicht abschätzbaren Umweltschäden haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Erdbebengefährdete Gebiete sind bekannt, dort trifft man Vorkehrungen durch bauliche Maßnahmen, Auflagen für Leben von Menschen in Risikozonen und durch Maßnahmen des Katastrophenschutzes. Da der Mensch die Annahmen für die Kalkulation jeweiliger Risiken trifft, die Wirkung der Naturgewalt sich aber nicht exakt vorhersagen lässt, bleibt ein Risiko. Die Menschen arrangieren sich und leben ganz natürlich damit.

Über die drohende Klimakatastrophe durch globale Erderwärmung aufgrund von CO 2-Emmissionen wurde seit dem vierten Bericht des UN-Klimabeirates viel geschrieben und engagiert sowie kontrovers diskutiert. Es ist den Menschen plausibel, dass wir mit wachsender Weltbevölkerung, wachsendem Bedarf an Energie und entsprechend gesteigerter Verbrennung von Öl, Kohle und Gas zur Erderwärmung beitragen und Klimaveränderungen mit erheblichen Auswirkungen auf unsere Lebensbedingungen hervorrufen. Die Menschen waren von dem Problem offenbar so beeindruckt, dass sogar zeitweilig die Ablehnung der friedlichen Nutzung der Kernenergie etwas schrumpfte, weil Kernenergie vergleichsweise umweltfreundlich erzeugt wird. Die Menschen wollen also etwas gegen die Erderwärmung und für das Wohlbefinden zukünftiger Generationen tun. Das Risiko wird allerdings eher diffus wahrgenommen und erzeugt keine wirkliche Angst, die zum persönlichen Handeln zwingt.

Umweltkatastrophen werden im Gegensatz zu Naturkatastrophen vom Menschen verursacht, beeinträchtigen die Umwelt, Mensch, Flora und Fauna erheblich, zum Beispiel durch Massensterben von Tieren. Auslöser sind häufig Betriebsunfälle. Die Explosion auf der „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko, die zum Untergang der Bohrinsel und zu zwei Lecks in 1500 Metern Tiefe mit massenweise austretendem Rohöl führte, entwickelte sich von einem „sehr ernsten Ölunfall“ zu einer schweren Umweltkatastrophe. Von der „Deepwater Horizon“ wurde ursprünglich behauptet, dass diese Bohrinsel die besten Technologien in der Welt gehabt hätte und dass sie nicht explodieren könne. Die Menschen werden nun teilweise entschädigt und es gibt weitere Tiefseebohrungen mit besten Technologien im Golf von Mexiko und anderswo, weil der Ölbedarf gedeckt werden muss. Die Menschen arrangieren sich und leben mit den Risiken. Es wird kaum einer auf die Idee kommen, seine Existenz aufzugeben, um nicht in der Nähe der möglicherweise nächsten massiven Küstenverschmutzung leben zu müssen.

Chemiekatastrophen sind nach der landläufigen Definition Umweltkatastrophen. Besonders bekannt geworden sind die Chemiekatastrophen von Seveso (Italien) von 1976, wo durch eine unkontrollierte chemische Reaktion große Mengen von Dioxin freigesetzt wurden und die Katastrophe in Bophal (Indien) von 1984, wo in einem Werk eines US-Chemiekonzerns aufgrund technischer Pannen mehrere Tonnen giftiger Stoffe in die Atmosphäre gelangten, an deren unmittelbaren Folgen mindestens 3600 Menschen starben. Andere Schätzungen sprechen sogar von insgesamt bis zu 25.000 Toten und bis zu 500.000 Verletzten durch direkten Kontakt mit der Gaswolke. Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen der Verletzungen und Vergiftungen, weil das ehemals genutzte Industriegelände und das Umland von den hochgiftigen und krebserregenden Überresten noch nicht befreit sind und so weiterhin Gift in Luft und Grundwasser gelangt.

Und am 4. Oktober 2010 brach bei Kolontár in Westungarn der Damm eines Deponiebeckens einer Aluminiumhütte, das zur Lagerung von Rotschlamm verwendet wurde. In der Folge traten bis zu 1,1 Millionen Kubikmeter des ätzenden und schwermetallhaltigen Schlamms aus. Der Schlamm gelangte in einen Hochwasser führenden Bach und überflutete zahlreiche entlang des Baches gelegene Gemeinden. In den betroffenen Bezirken wurde der Notstand ausgerufen. Eine Fläche von etwa 40 Quadratkilometern war direkt von den ausgetretenen Schlammmassen betroffen. Fauna und Flora auf diesem Gebiet wurden sehr stark geschädigt. Umweltschützer befürchten nach der roten Flut Langzeitschäden. Nach Chemiekatastrophen sind die Menschen entsetzt und entwickeln Angst, zu irrationalem Verhalten führen solche Katastrophen aber erkennbar nicht. Die Sicherheitsstandards werden überprüft und erhöht. Es wird nachgebessert. Die Menschen in den betroffenen Regionen leiden, aber es gibt kaum Auswirkungen über die Regionen hinaus. Es gibt keine großen Kampagnen in den Medien, es gibt keine gesellschaftsweiten Diskussionen über die friedliche Nutzung der Chemie, es gibt keine bekannt gewordenen Untersuchungen zur Erdbebenfestigkeit der chemischen Produktionsanlagen von BASF im Rheingraben und es gibt auch keine politischen Forderungen, die großen Chemieanlagen in Deutschland gegen Terrorangriffe oder Flugzeugabstürze sicher zu machen. Die Chemiekonzerne sind große Arbeitgeber in den Regionen und solche Forderungen hätten erhebliche Auswirkungen auf die jeweiligen Industriestandorte. Die Gefahr verbreitet keine überregionale Angst, die Menschen in der Region arrangieren sich und leben ziemlich normal mit dem erheblichen Risiko.

Atomkatastrophen haben einen ganz besonderen Stellenwert in der Wahrnehmung der Menschen, besonders in Deutschland. Jeder Mensch kennt die schlimmen Folgen von Nuklearexplosionen und die langfristige Wirkung radioaktiver Verseuchung seit dem Abwurf der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Trotzdem haben sich viele Staaten und Gesellschaften entschieden, die Kernenergie friedlich zu nutzen, um den ständig rasant steigenden Energiebedarf unserer teilweise hochindustrialisierten Welt zu decken. Die sehr schnelle Entwicklung von Technologien hat die Menschen sicher auch in der Annahme bestärkt, dass die Atom-Technologie weitestgehend beherrschbar sei. Die Katastrophe von Tschernobyl (1986), der bisher einzige Super-GAU und katastrophale Unfall mit dem Höchstwert 7 auf der INES-Skala hat zum Umdenken geführt, auch weil viele Regionen Europas durch in die Luft geschleudertes radioaktives Material beeinträchtigt wurden. Umfragen zur Folge hielten sich damals in Deutschland knapp 70 Prozent der Bürger für Atomkraftgegner. Nach Bekanntwerden von Einzelheiten und einer Fülle von menschlichen Fehlern, die zur Katastrophe geführt haben, beruhigte sich die aufgewühlte Volksseele wieder etwas, eine im Vergleich zu anderen Katastrophenmöglichkeiten besonders tief sitzende und verbreitete Angst blieb aber, ganz besonders ausgeprägt in Deutschland.

Die besonders ausgeprägte deutsche Angst vor Atomkatastrophen wurde bei der Dreifach-Katastrophe von Fukushima sehr deutlich. Das Jahrhundert-Erdbeben der Stärke 9 im Norden Japans und der folgende Tsunami hatten ungeheure, ja geradezu apokalyptische Zerstörungen und Tausende Tote zur Folge. Die deutschen Medien und mit ihnen die deutsche Bevölkerung haben das mit Bedauern und auch Anteilnahme zur Kenntnis genommen. Berichterstattung, Anteilnahme und Mitleid wurden aber sofort überlagert und stark verdrängt durch die vom Tsunami verursachte AKW-Havarie in Fukushima. Angstorientierte Berichterstattung beherrscht die Medien, die Bürger werden in eine geradezu irrationale Angst getrieben und Politiker nutzen die Gelegenheit, um die Angst weiter zu schüren und daraus politisches Kapital zu schlagen. Oder Politiker reagieren durch hektische, prinzipienlose und deswegen unglaubwürdige Kehrtwendungen und Kurskorrekturen, ohne dass Fehleranalysen als Grundlage für Rückschlüsse auf den Betrieb deutscher AKW und rationales politisches Handeln vorlagen.

Einer solchen, eher einseitigen und auf Atomenergie fokussierten und fixierten Angst der Bürger sollte angesichts der vielschichtigen Zukunftsprobleme durch Information und Kommunikation entgegengewirkt werden. Wir müssen die Stimmungen und Gefühle unserer Mitbürger sehr ernst nehmen, Stimmungen und Gefühle dürfen aber nicht politisches Handeln bestimmen.

Angesichts der Vielschichtigkeit der globalen Probleme hilft nur ein ganzheitliches Problembewusstsein und daraus abgeleitetes konsequentes Handeln.

Die Erdbevölkerung wächst schnell und muss ernährt sowie versorgt werden. Der Konsum und der Bedarf an höherem Lebensstandard wachsen rasant in Schwellen- und Entwicklungsländern – insbesondere in den bevölkerungsreichen Staaten China, Indien und Brasilien. Aber auch in den Industrieländern lässt sich Wohlstand nicht ohne Wirtschaftswachstum erhalten. Der dadurch ständig wachsende Energiebedarf muss ökonomisch, ökologisch und möglichst risikoarm gedeckt werden. Die meisten Staaten mit hohem Energiebedarf setzen dabei auf weitere intensive Nutzung der Kernenergie, auch um Klimaschutzziele einhalten zu können. Die Nutzung regenerativer Energien ist noch nicht so weit entwickelt, dass sie kurzfristig die Energie aus Atomkraft und fossilen Brennstoffen ersetzen kann. Ein schneller Ausstieg aus der Kernenergie und Kompensation durch Bau weiterer Anlagen für fossile Energieträger wie Öl und Kohle würden langfristige Umweltschäden und Klimabeeinträchtigungen zur Folge haben. Und das Weltklima hat sich ohnehin schon merklich zu unserem Nachteil verändert.

Da kommt das Gutachten des 1992 eingesetzten Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen (WBGU) gerade zeitgerecht auf den Markt. Die Experten plädieren für einen möglichst schnellen Ausstieg aus der Kernenergie wegen der "nicht vernachlässigbaren Risiken schwerster Schadensfälle und der ungeklärten Endlagerungsproblematik", sie halten den "massiven Ausbau der erneuerbaren Energie" für eine Lösung des Problems und raten von dem in verschiedenen Ländern geplanten Bau neuer Atomkraftwerke ab. Die Experten sprechen aber auch von der Notwendigkeit, "für das 21. Jahrhundert einen neuen Gesellschaftsvertrag auszuhandeln" und sie fordern einen "Systemwechsel", der nur durch "massive Investitionen, Änderungen im Konsumverhalten und globale Abgaben auf das klimaschädliche Kohlendioxid" zu bewältigen sei. Der Bericht der Ethik-Kommission, Ende Mai 2011, wird solche Feststellungen sicher noch erweitern.

Für einen neuen Gesellschaftsvertrag und einen Systemwechsel müssen irrationale Katastrophenängste jeder Art durch Information, Kommunikation und öffentliche Diskussion überwunden werden. Die Risiken möglicher, voneinander abhängiger Katastrophen sind so weit wie möglich gegeneinander abzuwägen und daraus sind Konzepte für eine langfristige Daseinsvorsorge zu entwickeln. Das ist nicht allein ein deutsches, sondern ein europäisches und vor allem auf der Zeitachse nur global zu bewältigendes Problem.

(09.04.2011)

 

nach oben

 

zurück zur Seite Kommentare