Hans-Heinrich Dieter

Moralischer Zeigefinger (14.02.2012)

 

Deutschlands Rolle in Europa und der Welt ist aufgrund unserer Geschichte problematisch. Als Zahlmeister sind wir gern gesehen, als Zuchtmeister nicht. Wenn Deutschland helfen und unterstützen will und soll, dann ausschließlich durch großzügige Finanzierungen, nicht aber durch Ratschläge oder Vorschläge, die gerne als "Bevormundung" aufgefasst werden. Unsere Freunde und Partner wollen Deutschland nicht in der Rolle eines "Lehrmeisters" sehen. Und doch erheben wir – auch ungefragt – hohe moralische Ansprüche im Hinblick auf die Verwirklichung der Menschenrechte.

Wenn Bundeskanzlerin Merkel zum Beispiel das zur Weltmacht aufstrebende China besucht, wenn also der Vize-Exportweltmeister vom Exportweltmeister empfangen wird, erwartet die Mehrzahl der Medien hauptsächlich, dass Menschenrechtsfragen wie die Unruhen in Tibet, Ãœbergriffe auf Dissidenten und Anwälte und die Medienfreiheit angesprochen werden. Für die Bewertung des Erfolges einer solchen Reise gelten als Maßstäbe die Häufigkeit von Treffen mit Oppositionellen und die Häufigkeit der Erwähnung von Menschenrechtsaspekten. Je mehr ein deutscher Politiker im Ausland als Menschenrechts-Hardliner mit hocherhobenem moralischem Zeigefinger auftritt, desto „erfolgreicher“ ist ein solcher Besuch aus Sicht der deutschen Idealisten. Wenn die Kanzlerin hingegen für chinesische Investitionen in Europa und Kredite für Euroländer wirbt, wird das abwertend als Bittstellerei abgetan, milliardenschwere Wirtschaftsverträge finden weniger Erwähnung, das Pochen auf Werte scheint wichtiger zu sein als das Vertreten der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands. Idealismus vor Pragmatismus – in der Politik ist das ein eher gefährlicher oder nachteiliger Ansatz. Gut, dass Kanzlerin Merkel zu mehr Pragmatismus zurückgefunden hat.

Kasachstans autoritär regierender Präsident Nasarbajew hat kürzlich die Bundesrepublik Deutschland besucht und unter anderem mit Kanzlerin Merkel eine Rohstoffpartnerschaft geschlossen - zum großen "Entsetzen" von Menschenrechtlern. Kasachstan ist keine Demokratie, die letzten Wahlen wurden nicht als frei und demokratisch anerkannt, Medienfreiheit und die Menschenrechte sind nicht nach unserem Standard gewährleistet. Deswegen das große Entsetzen, wie kann Deutschland mit einem solchen Staat Verträge schließen?

Dabei soll diese Rohstoffpartnerschaft mit dem zentralasiatischen Land der deutschen Wirtschaft vor allem Zugang zu den fünftgrößten Rohstoffvorkommen der Welt mit den sogenannten, von uns dringend gebrauchten, seltenen Erden verschaffen. Deutschland will im Gegenzug Technologien liefern und hat Wirtschaftsverträge über ca. drei Milliarden Euro abgeschlossen. Da sollte die Freude über den Erfolg für den Wirtschaftsstandort Deutschland das Entsetzen von Menschenrechtlern doch deutlich überlagern!

In diesem Zusammenhang muss zunächst diskutiert werden, mit welchem Recht und mit welchem moralischen Anspruch Deutschland den Zeigefinger heben und von souveränen Staaten mit anderer Kultur und nicht vergleichbarer geschichtlicher Entwicklung fordert, unser politisches System einzuführen und quasi "an unserem Wesen zu genesen". Auf viele Schwellen- und Entwicklungsländer müssen moralische Zeigefinger ziemlich arrogant, anmaßend und aufdringlich wirken.

Die Mehrheit der Staaten Europas hat sich aus dem finsteren Mittelalter mit der Aufklärung, vielen Brüchen oder Umbrüchen und mehreren Revolutionen zu einer Wertegemeinschaft entwickelt, in der die Gewährleistung der Menschenwürde und die Wahrung der Menschenrechte gesellschaftliche und staatliche Prinzipien sind. Darauf können wir stolz sein, überheblich sollten uns diese Errungenschaften aber nicht machen. Und wenn wir andere Völker und Staaten an unserem demokratischen Glück teilhaben lassen wollen, dann sollten wir mit Augenmaß, Verständnis für andersartige Kultur und Geschichte und Toleranz „missionieren“.

Und an Toleranz, Verständnis und Respekt vor der Souveränität und Eigenständigkeit anderer Völker und Staaten fehlt es offenbar häufiger, was nicht verwundert, wenn Eiferer mit im Spiel sind.

Wenn wir uns mit China befassen, vergessen wir die kommunistische Revolution des Massenmörders Mao und seiner Anhänger, die jahrzehntelange Indoktrination unter schlimmsten Bedingungen und die Tatsache, dass China auch heute noch von einer kommunistischen Einheitspartei regiert wird und sich zwar wirtschaftlich zu seinem Vorteil öffnet, aber noch jahrzehntelang von der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Lebens mit demokratischen Vorzeichen entfernt ist. Was also erwarten wir von einem solchen Regime im Hinblick auf die Gewährleistung der Menschenwürde nach unseren Vorstellungen und welche Wirkung erhoffen wir uns von hochmoralischen Zeigefingern?

Kasachstan war ab 1936 eigenständige Unionsrepublik innerhalb der Sowjetunion unter der Knute des Massenmörders Stalin, wurde 1991 unabhängig und ist heute eine Präsidialrepublik. 70% der Bevölkerung bekennen sich zum Islam, den sie allerdings vorwiegend säkular ausüben. Welche demokratische Qualität des gesellschaftlichen Lebens erwarten wir dann von einem wenig entwickelten Land, das nicht die Chance der Aufklärung hatte und auch noch nicht die Zeit, um demokratisches Verständnis in der Bevölkerung reifen zu lassen. Und dass in vorwiegend vom Islam geprägten Gesellschaften Demokratie nur teilweise oder rudimentär gelebt werden kann, ist inzwischen Allgemeingut. Allerdings wurde 1994 das Goethe-Institut Almaty eingerichtet und 1996 das kasachisch-deutsche Kulturabkommen unterzeichnet, das einen Kulturdialog auf vielfältigen Gebieten ermöglicht. Wenn das Rohstoffabkommen und die Wirtschaftsverträge darüber hinaus noch Wohlstand in kleinen Schritten nach Kasachstan bringen, dann ist der Bevölkerung Kasachstans mehr geholfen als durch aufdringliche Moral.

Mit solchem toleranten Pragmatismus in der Außenpolitik werden sich Menschenrechtseiferer nicht zufrieden geben wollen. Sie werden weiterhin das Pochen auf Menschenrechte einfordern. Dann sollte aber auch mit gleichem Maß gemessen und der moralische Zeigefinger erhoben werden.

Warum schonen wir Indien, wo wir doch wissen, dass das 1954 per Gesetz abgeschaffte Kastensystem mit Duldung der demokratischen Ordnung weiterhin menschenrechtsverletzende Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Indien ist?

Warum schonen wir die Türkei, wo wir doch wissen, dass menschenrechtsverletzende Zwangsheiraten, auch von Minderjährigen, gelebte Praxis und sog. Ehrenmorde noch immer Teil des gesellschaftlichen Lebens sind?

Warum erheben wir unsere Stimme nicht stärker gegen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem sog. Arabischen Frühling, Einschränkungen der Gleichheitsrechte der Frauen im Zusammenhang mit der Islamisierung der „befreiten“ Staaten oder mangelhafte Aufklärung von Kriegsverbrechen, Lynchjustiz und Menschenrechtsverletzungen im libyschen Bürgerkrieg? Und warum bewegen wir uns politisch auf Samtpfoten in Bezug auf Syrien?

Warum sind wir so zurückhaltend in der Kritik Russlands, das lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion inzwischen sogar wieder weiter davon entfernt ist, in demokratischen Verhältnissen unter Achtung der Menschenrechte zu leben, als zu Beginn der neunziger Jahre?

Und gegenüber den USA sind wir äußerst vorsichtig, wenn es um die Kritik von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Guantánamo geht.

Und bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen, sollten wir durch gesetzliche Maßnahmen und verbesserte Integration aktiv gegen Menschenrechtsverletzungen in Deutschland zum Beispiel durch Zwangsheiraten unter Migranten vorgehen.

Natürlich muss sich Deutschland auch weiterhin für Menschenrechte einsetzen aber nicht durch Schulmeister-Auftreten und Lehrmeister-Gehabe, sondern ausgewogen und mit Augenmaß. Deutschland steht Toleranz, Verständnis für Besonderheiten und Eigenheiten anderer Völker und Respekt vor der Souveränität unserer Partner viel besser zu Gesicht.

(14.02.2012)

 

 

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