Hans-Heinrich Dieter

NATO-Realpolitik   (03.04.2014)

 

Die Nato-Außenminister haben zwei Tage in Brüssel getagt und sich hauptsächlich mit der Ukraine-Problematik befasst. Konkrete neue und weiterführende Ergebnisse wurden nicht bekannt. Natürlich hat die NATO ihre Kritik am völkerrechtswidrigen Verhalten Russlands in der Ukraine-Krise bekräftigt, die verstärkte Luftraumüberwachung in den baltischen Staaten bestätigt, eine intensivierte militärische Zusammenarbeit angekündigt und die Zusammenarbeit mit Moskau im NATO-Russland-Rat bis auf weiteres ausgesetzt. NATO-Generalsekretär Rasmussen hat darüber hinaus Russland gestern vor einem weiteren Eingreifen in der Ukraine gewarnt.

Angesichts der russischen Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine und des diesbezüglichen widersprüchlichen und unglaubwürdigen Verhaltens Moskaus erwarten die osteuropäischen NATO-Mitglieder natürlich konkrete politische Schritte, die Russland deutlich Grenzen des Handelns und Gegenmaßnahmen bei Grenzverletzungen glaubwürdig aufzeigen.

Wenn Russland geschätzte 40.000 Soldaten in der Grenzregion in Stellung gebracht hat und nach Beurteilung des NATO-Oberkommandierenden mit diesen Verbänden die strategischen Ziele in drei bis fünf Tagen erreichen kann, dann ist Realpolitik abseits von Illusionen und optimistischen Hoffnungen gefragt. Aber wie kann NATO-Realpolitik gegenüber Russland gemacht und gestaltet werden?

Der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Kujat wirft der NATO in der aktuellen Krise Versagen vor. Wenn man Truppen an die Außengrenzen verlegen wolle, dann müsse man wissen, was man tatsächlich damit erreichen kann oder worauf man sich einlässt, meint er. Und Kujat kritisiert auch die Position der EU in der Ukraine-Krise. "Wenn man das Krisenmanagement der Europäischen Union betrachtet - im Wesentlichen gestaltet von Deutschland - da kann einem angst und bange werden." Es werde nicht deeskaliert, sondern eskaliert. In Putins chauvinistischer Propaganda-Rede nach der Annexion der Krim hingegen glaubt er "auch Elemente für einen konstruktiven Dialog" zu erkennen. Kujat belässt es bei großspurigem Gerede, denn er macht keinen einzigen konkreten Vorschlag, wie eine vernünftige Politik gegenüber einem plötzlich vom Partner zum Gegner mutierten Russland aussehen könnte - außer natürlich: den Dialog möglichst weiterführen. Es gibt wohl "Sicherheitspolitiker", die scheinen entsprechend dem zynischen Rat zu denken, "wenn Du eine Vergewaltigung nicht verhindern kannst, dann sollst Du sie genießen". Und wenn man es "genossen" hat, muss man auch den Vergewaltiger nicht zur Rechenschaft ziehen lassen - vielleicht erwächst daraus ja wieder eine Partnerschaft. Das wäre allerdings sehr unwürdiges Denken!

Wenn man mit militärischen Maßnahmen droht oder sie ergreift, muss man natürlich wissen, "was man tatsächlich damit erreichen kann oder worauf man sich einlässt". Man muss aber vor allem genau wissen, was man Putin, der gezeigt hat, dass er bereit ist, seine großrussischen sowie eurasischen Ziele rigoros und konsequent, auch mit massiven Völkerrechtsverletzungen, mit der Beeinträchtigung der Souveränität von Nachbarstaaten und mit militärischen Mitteln durchzusetzen, an militärischer Macht dauerhaft und effizient entgegensetzen kann. Da muss man nüchtern feststellen, dass die NATO in einem neuerlichen kalten Krieg nur eingeschränkt militärische Kapazität verfügbar hat. Nach der NATO-Strategie müssten die Mitgliedstaaten 50% ihrer Streitkräfte für Landesverteidigung im Rahmen des Bündnisses zur Verfügung halten und große Teile innerhalb von 30 Tagen einsatzbereit verfügbar machen können. Davon sind die europäischen Mitgliedstaaten, die sich strukturell und konzeptionell sehr stark auf Auslandseinsätze konzentriert haben, weit entfernt. Man hat sich also auf die militärischen Fähigkeiten der USA verlassen und wird das in Zeiten knapper Kassen auch weiterhin tun wollen - solange das möglich ist. Die NATO ist also ein Verteidigungsbündnis, das in den letzten Jahren seine militärischen Fähigkeiten deutlich zurückgefahren hat und zu großangelegter Aggression nicht befähigt ist. Daher hält der kühl kalkulierende Putin das Risiko seines Handelns auch für gering.

Umso entlarvender ist dementsprechend die Propaganda Moskaus, die Russland als durch das expandierende, aggressive Militärbündnis NATO unter Druck gesetzt und eingekreist darstellt. Dem widerspricht der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma Alexej Puschkow, der feststellt, die Nato habe ihren Sinn mit dem Ende des Kalten Krieges verloren und wolle nun mithilfe der Ukraine-Krise frisches Blut in ihre Adern pumpen, um das Bündnis aus seinem Zustand als "halbe Leiche" zu erwecken.Vizeregierungschef Dmitri Rogosin wertet die Ankündigung der Nato, die Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation bis Juni auf Eis zu legen sogar als Aprilscherz. Soweit zur Glaubwürdigkeit des ehemaligen Partners Russland, aber da klingt durchaus nächtliches Pfeifen auf dem Friedhof mit.

Der russische Außenminister Lawrow sagte inzwischen, die Truppen entlang der Grenze zur Ukraine würden zurückgezogen, sobald die Militärübungen beendet seien und die russische Regierung erwarte jetzt von der Nato Antworten über ihre künftigen Aktivitäten in Osteuropa. Russland annektiert, Russland erwartet, Russland diktiert der souveränen Ukraine was sie zu tun und zu lassen hat. Nach Aussagen Lawrows muss die Ukraine eine neue Verfassung ausarbeiten, sich verpflichten, niemals der Nato beizutreten und eine föderative politische Struktur einnehmen - da kann Russland dann beim Schützen russischer Bürger in beherrschbaren Portionen leichter annektieren. Die westliche zivilisierte Welt kann sich solche stalinistischen Anmaßungen nicht bieten lassen, ohne unglaubwürdig zu werden.

Die bisherige Politik der westlichen Welt zeigt aber durchaus Wirkung. Die gemeinsamen und abgestimmten Schritte der inzwischen stärker vereinten EU und der USA waren von Putin wohl so nicht erwartet worden. Realpolitik der NATO ergänzt das gemeinsame Vorgehen des Westens gegen derzeitige und zukünftige russische Völkerrechtsverletzungen. Gemeinsamkeit im politischen Handeln muss unbedingt erhalten und möglichst verstärkt werden.

Wenn der Westen bereit ist, seine politische, wirtschaftliche, militärische, sportliche und kulturelle Zusammenarbeit mit Russland anlassbezogen bis auf ein Minimum dort zu reduzieren oder ganz einzustellen, wo es der nach einem neuen Imperium strebenden "Regionalmacht" Russland am meisten und unseren Demokratien und Volkswirtschaften am wenigsten schadet, dann werden die Auswirkungen Moskau mehr oder weniger schnell zur Vernunft bringen. Gegen einen vereinten Westen ist Russland auf Dauer relativ machtlos und China wird da nur zu lukrativen Konditionen sporadisch an der Seite Russlands stehen wollen.

Die nachgeordnete und ergänzende NATO-Realpolitik muss also in diesem Konzert so starke und unumstößliche Sicherheitsgarantien wie möglich schaffen, dass sie in Moskau nicht ignoriert werden können. Die NATO kann die USA auch in der Absicht bestärken, in Polen dauerhaft militärische Kräfte zu stationieren und Polen am amerikanischen Raketenabwehrsystem teilhaben zu lassen. Die NATO muss außerdem erkennbar die Bereitschaft zeigen, bestehendes Engagement zu erweitern oder zu verstärken und darf es nicht bei "Prüfaufträgen" belassen. Die militärische Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Mitgliedstaaten muss auf jeden Fall intensiviert werden. Auch wenn die Kapazitäten für eine möglicherweise erforderliche militärische Eskalation durch die NATO inzwischen begrenzt sind, darf nicht der Eindruck entstehen, dass die NATO tatenlos zusehen würde, wenn die Souveränität und die Integrität des Staatsgebietes eines NATO-Verbündeten ggf. beeinträchtigt wird. Der Artikel 5 des NATO-Vertrages ist da eindeutige Richtlinie.

Deshalb muss die NATO unbeirrt von pazifistischem Geschrei und russischer Propaganda den Drahtseilakt fortsetzen und auf der einen Seite ihre Verteidigungsbereitschaft unter Beweis stellen sowie auf der anderen Seite unnötige Provokationen vermeiden.

Die USA reagieren bereits mit konkreten Maßnahmen auf die russische Bedrohung. Den Rumänen wurde bereits die Stationierung von zusätzlichen US-Soldaten versprochen. Washington erwägt, ein Kriegsschiff in das Schwarze Meer zu entsenden und eine US-Delegation kommt nach Europa, um Nato-Manöver in den östlichen Mitgliedstaaten vorzubereiten. Da sollte die NATO engagiert mitarbeiten.

Russland hat die Nach-Kalter-Kriegs-Zeit plötzlich deutlich verändert und das Vertrauen der westlichen Welt zu großen Teilen verspielt. Da bleibt für Illusionen und Steinmeiers Klammern an Hoffnungen, Putin werde doch noch einlenken und ein klar erkennbares "Signal der Entspannung" senden, wenig Raum.

(03.04.2014)

 

 

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