Hans-Heinrich Dieter

Niederlage in Afghanistan?   (23.11.2011)

 

Die Zehn-Jahres-Bilanz des Afghanistaneinsatzes der internationalen Staatengemeinschaft ist vielstimmig und vielschichtig. Die Beurteilung von Erfolg oder Misserfolg des Engagements ist natürlich immer abhängig von Interessen, Perspektive oder Erfahrungshintergrund des Beurteilenden.

Der Sonderbeauftragte für Afghanistan und Pakistan, Botschafter Michael Steiner stellt in seinem Zwischenbericht vom Juli 2011 fest, dass Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft mit vielen Schwierigkeiten und trotz schwerer Rückschläge in den drei Aufgabengebieten, Sicherheit, Regierungsführung und Entwicklung, so vorangekommen seien, dass die Übergabe der Sicherheitsverantwortung 2011 mit dem Ziel beginnen könne, diesen Prozess bis Ende 2014 abgeschlossen zu haben. Die Diktion wundert nicht, denn es ist ja erklärtes politisches Ziel Deutschlands, mit den anderen Staaten zusammen bis 2014 alle Kampftruppen aus Afghanistan abzuziehen.

Der amerikanische Oberbefehlshaber in Afghanistan, General John Allen ist kürzlich in einem Interview mit der WELT sehr zuversichtlich: "Ich bin nach wie vor sehr optimistisch. Es gibt in meinen Augen keine Frage, dass wir hier die richtigen Ressourcen haben und kontinuierliche internationale Unterstützung. Wir können in Afghanistan sehr erfolgreich sein. Wir können es schaffen. Das glaube ich gerade, wenn ich in den Norden schaue. Dort sehe ich die Zukunft dieses Landes. Unter der hervorragenden Führung von General Markus Kneip hat Deutschland dort einen riesigen Beitrag zum Gelingen dieser Mission geleistet. Dafür bin ich sehr dankbar." Generale, die Truppen führen, müssen optimistisch sein und sind dem Primat der Politik unterworfen. Da ist es verständlich, dass General Allen von der schnellen und umfangreichen Truppenreduzierung sagt, "Der Abzug der Truppen ist unsere Friedensstrategie".

Karsai selbst sagte der BBC, die Bemühungen um Stabilität in Afghanistan seien "gescheitert", seine eigene Regierung und die Truppen der NATO hätten es nicht geschafft, dem afghanischen Volk Sicherheit zu bringen. Der ehemalige Generalinspekteur hat vor wenigen Wochen den Einsatz in Afghanistan in einem Zeitungsinterview für gescheitert erklärt. Und der ehemalige Grünen-Abgeordnete Nachtwei sagt in diesem Zusammenhang: "Die Internationale Staatengemeinschaft musste inzwischen erkennen: Nichts ist einfach in Afghanistan, diesem zerklüfteten, zerrissenen, vielfältigen, zugleich so faszinierenden Land. Sie musste erkennen: Ein Scheitern ist möglich, so konnte es nicht weitergehen."

Der kenntnisreiche Journalist Marco Seliger, der sich in seinen Front-Berichten sehr sachkundig der Probleme und Herausforderungen der Soldaten der Bundeswehr angenommen hat, stellt in einem Interview zu seinem jetzt erschienenen Buch „Sterben für Kabul – Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg“ fest: "Eine, ich behaupte zwei Generationen wird es dauern, bis sich die Verhältnisse in Afghanistan unter fortdauerndem internationalem Engagement in allen Bereichen vielleicht verändern würden. Das sind 50 Jahre. Dafür hat kein Staat der Welt den Atem, die Truppen und schon gar kein Geld. Wir könnten etwas verändern, bleiben aber mitten auf dem Weg stehen. Ganz gleich, ob wir unsere Truppen 2012 oder 2014 abziehen, wir kapitulieren vor den afghanischen Verhältnissen. Der Tod unserer Soldaten war daher sinnlos."

Die Stimmen von Politikern, die sich mit der Sache befasst haben, sind interessenabhängig mehr oder weniger optimistisch. Fachleute, die die Lage in Afghanistan aus eigener Anschauung kennen, sind eher skeptisch bis negativ in ihrem Urteil hinsichtlich der Abzugsplanungen bis 2014. Die Unterschiede in der Beurteilung der Lage Afghanistans liegen auch darin begründet, dass bisher niemand in Deutschland genau weiß, was für eine "Übergabe in Verantwortung" in den unterschiedlichen Aufgabenbereichen noch konkret bis 2014 zu leisten ist, um die Übergabe an die afghanischen Institutionen vor der afghanischen Bevölkerung auch wirklich verantworten zu können. In dieser Lage ist es verführerisch, Reduzierungszahlen und Zeiträume - wie bisher immer - vorwiegend partei- und innenpolitisch als Signal an die deutsche Öffentlichkeit zu sehen, denn die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Einsatz am Hindukusch ja offensichtlich ab.

Wenn man General Allen in seiner Einschätzung: "Wir können in Afghanistan sehr erfolgreich sein. Wir können es schaffen." grundsätzlich folgt, dann muss man auch folgende Fragen beantworten: Wie lautet die Analyse der Lage in den kritischen Aufgabenfeldern in den unterschiedlichen Regionen? Was genau wollen wir in den Aufgabenfeldern bis 2014 in welcher Qualität schaffen, wie definieren wir die Zielzustände? Was ist zu tun, um Korruption und Willkür in Afghanistan auf ein vertretbares Maß zurückzuführen? Welche Maßnahmen müssen nun endlich ergriffen werden, um den Drogenanbau und -handel zu minimieren unter gleichzeitiger Gewährleistung alternativer Erwerbsmöglichkeiten für die Landbevölkerung? Welche Maßnahmen sind erforderlich, um wirtschaftliche Einbrüche durch die Truppenreduzierungen zeitgerecht abzufedern? Welche Unterstützung ist zu leisten, um den Aufbau einer afghanischen Industrie zu fördern? Wie kann der Aufbau leistungsfähiger Verwaltungsstrukturen auf unteren und mittleren Ebenen gelingen? Dieser Fragenkatalog ließe sich mühelos erweitern. Solche Fragen werden allerdings bei den parlamentarischen Erörterungen und Debatten nicht gestellt, denn darauf wüsste niemand eine Antwort. Darüber hinaus will sich auch niemand so recht mit "Zielzuständen" befassen, denn wenn man Messlatten definiert hat, erwächst die Gefahr, dass man daran gemessen wird.

Da ist es leichter, eine vage beschriebene, vermeintlich verbesserte Sicherheitslage in Nord-Afghanistan als Begründung für Truppenreduzierungen heranzuziehen. Im jetzt diskutierten Mandat soll die Obergrenze deutscher Truppen erstmals seit 2002 reduziert werden, von derzeit 5.350 auf 4.900 Soldaten. Und bis Anfang 2013 soll diese Zahl voraussichtlich noch einmal um 500 sinken. Dabei ist die Sicherheitslage auch im Norden Afghanistans nicht stabil und die Aufständischen sind keineswegs in der Defensive, denn sie haben gerade 2011 ihre "Leistungsfähigkeit" durch spektakuläre Anschläge deutlich unter Beweis gestellt. Und wenn man davon ausgeht, dass Aufbau und Entwicklung Afghanistans nur dann möglich sind, wenn die Sicherheit der Bevölkerung hinreichend gewährleistet ist, dann muss man den Fragenkatalog ergänzen: Welches internationale Personal ist zwingend erforderlich, um den geplanten Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte auch in der gewünschten Qualität bis 2014 zu gewährleisten, reichen die derzeit verfügbaren Kampftruppen dafür aus? Welche Vorkehrungen müssen für den Fall getroffen werden, dass in Distrikten und Regionen, in denen die Afghanen die Verantwortung für die Sicherheit übernommen haben, die Taliban wieder die Oberhand gewinnen, welche Reserven an Kampftruppen sind dafür vorzuhalten? Wie kann der Abzug von zunächst 1.000 und dann mehr US-Truppen und Hochleistungs-Wehrmaterial aus dem deutschen Verantwortungsbereich kompensiert werden? Wie kann in von Taliban gesäuberten Regionen die Präsenz auch internationaler Truppe gewährleistet und damit Vertrauen der Bevölkerung gewonnen werden? Wie kann die Bevölkerung in entlegenen und schwer zugänglichen Gegenden Afghanistans vor den Taliban geschützt und in ihrer Entwicklung unterstützt werden? Wie kann man verhindern, dass die Taliban erneut Stützpunkte für internationalen Terrorismus einrichten? Wenn man Antworten auf diese Fragen sucht, kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass die Sicherheitslage eine Truppenreduzierung derzeit noch nicht ratsam erscheinen lässt. Im Gegenteil, wenn die internationale Staatengemeinschaft bis 2014 ihre Kampftruppen geordnet abziehen will, dann erfordert ein solcher geordneter Rückzug eher eine Truppenverstärkung, um die vage formulierten Sicherheitsziele in sehr unsicherer Lage erreichen zu können. Der für die Nordregion zuständige deutsche General Kneip hat deswegen auch vorsichtig vor übereilten Reduzierungen gewarnt. Verteidigungsminister de Maizière wollte an sich den Abzug von Kampftruppen von der Lage abhängig machen, hält aber nun politisch eine Truppenreduzierung in dem vom Auswärtigen Amt vorgeschlagenen Umfang für vertretbar. Die parlamentarische Diskussion wird sich im Dezember und Januar vorwiegend auf Zahlen und Zeiten begrenzen. Und eine intensive inhaltliche, am Wohl der afghanischen Bevölkerung orientierte Diskussion dieses heiklen Themas ist im Zusammenhang mit den anstehenden Wahlen 2013 nicht zu erwarten. Von "Niederlage" kann da politisch ohnehin nicht die Rede sein.

Von einem möglichen "Sieg in Afghanistan" wird aber auch niemand sprechen wollen oder können. Deutschland und die anderen NATO-Staaten bekräftigen daher immer wieder, dass man danach Afghanistan nicht allein lassen werde, weil sie höchst unsicher sind, wie sich die Lage Afghanistans 2014 real darstellen wird. Sicher dürften sich alle sein, dass es auch nach 2014 sehr großer ideeller, politischer, materieller und finanzieller Anstrengungen bedarf, Afghanistan als noch immer eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt auf den Status eines Entwicklungslandes zu heben und dort zu halten. Denn wer soll die afghanischen Sicherheitskräfte unterhalten und finanzieren, wenn nicht die internationale Staatengemeinschaft, wer leistet die umfangreichen und teuren Investitionen in die immer noch daniederliegenden anderen gesellschaftlichen Bereiche? Angesichts der politischen Krise und der Schuldenkrise sowohl der USA als auch Europas sind die Afghanen, die ihre Lage gut kennen, natürlich skeptisch, ob die Unterstützung im erforderlichen Umfang und Ausmaß über die absehbar lange Zeit geleistet werden wird.

Wie auch immer, der Gesamtumfang der erforderlichen Unterstützungsleistungen für den Aufbau und die Entwicklung Afghanistans wird gleich bleiben. Je mehr man zu frühzeitig an Unterstützung reduziert, desto mehr gefährdet man die bisherige Aufbauleistung und desto größer ist der Unterstützungsbedarf nach 2014. Die Zeit bis 2014 sollte deswegen illusionsfrei und intensiv für die Gestaltung relativ guter Startchancen für ein selbstverantwortliches Afghanistan genutzt werden.

(23.11.2011)

 

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