Hans-Heinrich Dieter

Realitätsverlust   (14.09.2017)

 

Es ist gut, dass der Präsident der EU-Kommission Juncker gestern, kurz nach der teilweisen Überwindung der Griechenlandkrise und des Brexit-Schocks, eine euphorische und positiv gedachte Rede zur Lage der Europäischen Union vor dem EU-Parlament gehalten hat. Die EU hat ja auch Erfolge aufzuweisen: die Wirtschaft erholt sich langsam und die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Außerdem ist die Idee der Europäischen Union zu gut, um sie von Europa-Skeptikern permanent miesmachen zu lassen. Die Zukunft der EU darf man aber auch nicht schönreden wollen, denn die Zukunft einer überlebensfähigen und handlungsstarken EU kann nicht durch die Wiederholung grundsätzlicher Ideen gesichert, sondern muss durch grundlegende Reformen gewährleistet werden. Diesbezügliche Visionen sind zu begrüßen, Illusionen sind als untauglich abzulehnen. In die Segel der EU weht kein frischer Wind, sondern höchstens ein laues unstetes Lüftchen!

Wenn es nach Juncker geht, soll die EU weiterwachsen und bis 2025 möglicherweise um die 30 Mitglieder haben. Dabei muss es derzeit doch wohl in der heillos zerstrittenen Union darum gehen, zunehmend nationalistisch und unsolidarisch agierende Mitglieder in die Wertegemeinschaft der EU zurückzuholen. Wenn das nicht gelingt, dann muss sich die EU neu erfinden und mit einem Kerneuropa der leistungsstarken und solidarischen Mitglieder eine tiefer integrierte EU weiterentwickeln und den unsolidarischen Staaten eine Vollmitgliedschaft zu den neuen Bedingungen oder eine privilegierte Partnerschaft anbieten. Angesichts der derzeitig ungelösten und fortdauernden Probleme sind Erweiterungsphantasien Wasser auf die Mühlen der EU-Gegner, denn neue Beitritte werden sich eher negativ und kontraproduktiv auswirken, wenn eine reformierte EU noch nicht konsolidiert ist.

Kommissionspräsident Juncker schlägt vor, dass alle Länder den Euro übernehmen sollen, und glaubt tatsächlich, dass der Euro eine einigende Wirkung habe. Juncker hat sich offenbar nicht allzu intensiv mit der Lage in den Mitgliedstaaten der Währungsunion befasst. Vor der Ausweitung der Eurozone muss die Stabilisierung der Volkswirtschaften der Euro-Länder des Euro selbst stehen. Das Beispiel Griechenlands, das durch Lug und Trug und aufgrund von Blauäugigkeit – real Verantwortungslosigkeit - der damals politisch Verantwortlichen Mitglied der Eurozone wurde, steht uns plastisch vor Augen. Und in Zeiten, wo die Mitgliedstaaten wirtschaftlich auseinanderdriften und man Italien und Frankreich unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht ohne Grund empfehlen könnte, zur jeweils nationalen Währung zurückzukehren, um sich durch Abwertung wirtschaftlich zu konsolidieren, phantasiert Juncker über Erweiterungen der Eurozone, wo er doch um die stark unterschiedliche Wirtschaftskraft der südlichen und der nördlichen Euroländer weiß, die schon zur Ãœberlegung der Schaffung eines Nord- und eines Süd-Euros geführt haben. Inmitten einer nicht überwundenen Eurokrise und angesichts einer durch andauernde Nullzins-Politik und durch billionenschwere Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank möglicherweise verursachten neuerlichen Eurokrise, sind neue Euro-Staaten außerdem eine zusätzliche Belastung. Was auch immer entschieden wird: wer den Euro will, muss die Kriterien aus eigener Wirtschaftskraft voll erfüllen, es darf keine „Anschubfinanzierung“ und auch keinen politischen Rabatt geben! Wichtig ist, dass eine Transferunion und eine Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone verhindert wird. Und für milliardenschwere Hilfen als Euro-Anschubfinanzierung für osteuropäische Staaten, die sich in der Lösung der Flüchtlingsproblematik verweigern, wird kein westlicher EU-Bürger Verständnis aufbringen!

Juncker fordert auch eine schnelle Ausweitung des Schengen-Raums um Rumänien, Bulgarien und später auch Kroatien, sobald es alle Kriterien erfüllt habe. Wer inmitten der weiterhin ungelösten Flüchtlingsfrage ernsthaft den Schengenraum noch erweitert, lebt außerhalb der Realität. Aus Rumänien und Bulgarien kommen außerdem die organisierten Verbrecherbanden in die EU und weder Rumänien, noch Bulgarien und auch nicht Kroatien erfüllen derzeit die Kriterien. Wir erinnern uns auch, dass sowohl Rumänien als auch Bulgarien 2004, viel zu früh und ohne die Kriterien zu erfüllen, unverantwortlich in die EU aufgenommen wurden. Wichtig wäre, das nicht mehr der Zeit entsprechende Dublin-Abkommen der Realität anzupassen und neu zu verabschieden.

Angesichts der Vielzahl unausgegorener „Pläne“ übersieht man fast, dass der Kommissionspräsident auch weniger kritikwürdige bis vernünftige Vorschläge macht. Er will die EU über legale Migrationswege weiter für Flüchtlinge offenhalten aber Flüchtlinge ohne Anspruch auf Asyl konsequenter als bisher zurückschicken, damit den wirklich Hilfsbedürftigen geholfen werden könne. Juncker will zusätzlich zur Bankenaufsichtsbehörde eine gemeinsame Arbeitsmarktbehörde schaffen, die für Fairness innerhalb des Binnenmarkts und für Einhaltung der EU-Vorschriften zur Entsendung und Mobilität von Arbeitskräften in Europa sorgt. Und er will das Amt eines für Währungs- und Wirtschaftsfragen zuständigen EU-Kommissars schaffen, der zugleich, ohne neuen Apparat, Chef der Eurogruppe wird und alle Finanzinstrumente der EU koordiniert. Damit wendet er sich gegen den sehr viel weiter gefassten Vorschlag von Macron, dem ein Eurogruppen-Finanzminister mit eigenem Milliarden-Budget vorschwebt. Juncker kündigt außerdem einige wirtschaftspolitische Initiativen an.  So will die EU-Kommission bis 2019 ein Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland unter größtmöglicher Transparenz aushandeln. Geplant sind zudem Abwehrmaßnahmen gegen Cyberangriffe, eine Initiative zum Datenaustausch sowie eine Strategie zur Stärkung und Digitalisierung der europäischen Industrie. Und schließlich will Kommissionspräsident Juncker das Amt des Ratspräsidenten mit seinem eigenen, des Kommissionspräsidenten, verschmelzen und die EU damit effizienter machen, sowie sicher auch teure Bürokratie abbauen. Ãœber diese Vorschläge wird trefflich zu diskutieren sein – hoffentlich ohne von den eigentlichen Problemen abzulenken.

Bei dieser Rede wirkt die Analyse Junckers angesichts der realen Politik unzureichend, und er vermittelt nicht den Eindruck, dass er aus den vielen Krisen, mit denen die Europäische Union seit 2005 konfrontiert war, die Lehren gezogen hat. Ich würde nicht so weit gehen wie der niederländische Ministerpräsident Rutte, der meinte, Juncker solle einen Arzt auf- aber nicht die EU heimsuchen. Allerdings hat Juncker mit seiner Rede sicher auch nicht die Mehrheit der EU-Bürger im vertrauensbildenden Sinne erreicht. Die positiv eingestellten Bürger wollen eine handlungsfähige Union, hauptsächlich auf den Problemfeldern Migration und Flüchtlinge, Terrorbekämpfung, gemeinsame Verteidigungsanstrengungen mit der NATO sowie Klimawandel. Eine überlebensfähige und handlungsstarke EU erfordert Reformen und deswegen wollen die Bürger überzeugt werden, dass die EU über die dringend notwendigen Reformen wirklich bereit und in der Lage ist, die Probleme anzupacken, nachhaltig zu lösen und das Leben der EU-Bürger zu verbessern.

Juncker hat es sicher gut gewollt aber nicht so gut gemacht!

(14.09.2017)

 

 

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