Hans-Heinrich Dieter

Strategische Autonomie der EU   (26.02.2021)

 

Präsident Macron hat schon kurz nach seinem Amtsantritt 2017 eine Neuausrichtung der französischen Verteidigungspolitik verkündet. Und seitdem wird immer wieder von einer „europäischen strategischen Autonomie“ und von einer „europäischen Verteidigungsunion“ gesprochen. Und tatsächlich ist seit 2017 ja schon einiges erreicht worden, wie ein europäischer Verteidigungsfonds, die ständige strukturierte Zusammenarbeit und – verbal - auch eine Interventionsinitiative. Aber da Macron eine sehr weitgehende Unabhängigkeit von den USA anstrebt, reicht ihm das nicht. Deswegen bringt er mit einer europäischen strategischen Autonomie die französische „Force de dissuasion nucléaire“ („nukleare Abschreckungstreitmacht“) ins Gespräch und meint damit, einen Nuklearschirm über die EU spannen zu können. A never ending story!

Und deswegen erörtern die Staats- und Regierungschefs der EU heute ihre „gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, auch um die Frage zu beantworten: Wieviel „strategische Autonomie“ braucht die Europäische Union? – eine sehr fragwürdige Fragestellung!

Europäische strategische Autonomie bedeutet doch in unserer derzeitigen sicherheitspolitischen Lage, dass das Staatenbündnis eigene strategische Vorstellungen hat und sich selbst verteidigen können muss. Die EU hat bisher keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, geschweige denn gemeinsame strategische Vorstellungen. Und eine eigenständige Verteidigung kann die EU schon aufgrund der militärischen Einsatzfähigkeiten der EU-Mitgliedstaaten, aber hauptsächlich auch wegen der minimalen nuklearen Fähigkeiten nicht gewährleisten. Denn USA und Russland verfügen über jeweils 1.500 bis 2.000 Nuklearsprengköpfe. Darüber hinaus haben die USA die größten Interventionsfähigkeiten weltweit. Als einziges EU-Mitglied verfügt Frankreich im Vergleich mit Russland über marginale Nuklearfähigkeiten und mit einem Flugzeugträger sowie vier nuklearfähigen U-Booten und knapp 300 verfügbaren Atomsprengköpfen über insgesamt stark eingeschränkte Verteidigungs- und Interventionsfähigkeiten. Und damit will Macron einen Nuklearschirm über die EU spannen können? Im Vergleich zu dem zunehmend aggressiven Russland ist die Grande Nation eher ein nuklearer Zwerg und Großbritannien wird sich einer europäischen „strategischen Autonomie“ nicht anschließen. Insofern ist schon der Begriff „europäische strategische Autonomie“ irreführend und illusorisch.

Die französische Regierung hat angekündigt, dass sie für den Zeitraum 2019 bis 2023 mit Unterhalts- und Modernisierungskosten für die Force de dissuasion nucléaire in Höhe von 25 Milliarden Euro rechnet. Nukleare Fähigkeiten kosten halt sehr viel. Frankreich wünscht die Beteiligung von europäischen Partnern an diesen Kosten, allerdings mit rein französischer Verfügungsgewalt über diese Force de dissuasion nucléaire, als Kern einer anzustrebenden europäischen Atommacht. Das ist aber ein Langzeitprojekt mit einer höchst fraglichen Realisierungsmöglichkeit. Denn die anderen EU-Staaten haben große Kraftanstrengungen zu leisten, um die eingeschränkte Einsatzfähigkeit ihrer Streitkräfte wiederherzustellen. Deutschland zum Beispiel braucht wohl bis 2031, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO wiederherzustellen – wenn die mittel- und langfristige Finanzplanung nach Corona die Realisierung noch zulässt. Anderen EU-Mitgliedstaaten geht es nicht viel besser. Da bleiben keine Mittel für eine Beteiligung der EU-Partner an einer Force de dissuasion nucléaire, als Kern einer anzustrebenden europäischen Atommacht.

Für eine „gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ und für eine „strategische Autonomie“ der EU sind außerdem Gemeinsamkeit und Solidarität der Mitgliedstaaten Grundvorrausetzungen. Die EU ist aber mehrfach gespalten in den wirtschaftsstärkeren Norden und den weniger leistungsstarken Süden mit gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Die EU hat eine Euro-Zone und eine Reihe Länder mit eigener Währung. Die Flüchtlings- und Migrations-Krise hat die Mitgliedsländer nachhaltig auseinanderdividiert und den Schengen-Raum brüchig werden lassen. Und die effektive Sicherung der EU-Außengrenzen ist längst nicht gewährleistet. Die EU ist insgesamt in einer desolaten Lage. Italien steht wirtschaftlich und finanziell am Abgrund, verweigert sich einer rationalen Zusammenarbeit mit der EU und wird sich mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit zu einem längerfristigen Problemfall entwickeln. Griechenland ist wirtschaftlich und finanziell noch lange nicht stabil und wird noch für längere Zeit ein Problemfall bleiben. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die sogenannte Visegrad-Gruppe, die gelegentlich durch Österreich verstärkt wird, entwickeln sich nationalistisch, teilweise egozentrisch und in rechtsstaatlicher Hinsicht entgegengesetzt zu den Wertvorstellungen der EU. Solidarität ist von diesen Mitgliedern nur zu erwarten, wenn sie nationale Vorteile sehen und finanzielle Unterstützung der EU erwarten!

Spanien, Portugal, Zypern und Irland arbeiten noch hart an ihrer wirtschaftlichen Konsolidierung, sind aber auch noch nicht über dem Berg. Belgien ist aufgrund seines Nationalitätenstreites nicht hinreichend stabil. Die Niederlande, Luxemburg, Irland und Malta machen Steuervermeidungspolitik zum Nachteil anderer EU-Mitgliedstaaten. Rumänien und Bulgarien hätte man überhaupt nicht aufnehmen dürfen, da sie 2007 die Kriterien nicht erfüllt haben. Kroatien und Slowenien sind innenpolitisch instabil. Dänemark, Schweden und Finnland hingegen haben hauptsächlich innenpolitische Probleme, die sie als Mitglieder beeinträchtigen. Lediglich die baltischen Staaten haben sich in die EU gut eingefunden.

Und diese in vielerlei Hinsicht heterogene und ziemlich zerstrittene Europäische Union redet von „strategischer Autonomie“ und von einer ”richtigen europäischen Armee”, die die Mitgliedstaaten auch gegen Russland verteidigen und ein Gegengewicht zu China mit seinen Weltmachtambitionen bilden können soll! Das ist pure Illusion – ja geradezu ein gigantisches europäisches Wolkenkuckucksheim!

Was wir brauchen ist eine überlebensfähige und handlungsstarke EU. Das erfordert aber weniger euphorische Reden zur Weiterentwicklung auf der Basis der derzeitigen Struktur, sondern echte Struktur-Reformen, um die EU wirklich handlungsfähig zu machen und deswegen wollen die Bürger überzeugt werden, dass die EU für die dringend notwendigen Reformen wirklich bereit und in der Lage ist, die Probleme anzupacken, nachhaltig zu lösen und das Leben der EU-Bürger zu verbessern. Darauf sollten sich die Staats- und Regierungschefs konzentrieren, anstatt sich an „never ending illusions“ eines Macron - der 2019 der NATO noch einen „Hirntod“ bescheinigt hat - abzuarbeiten.

Die EU hatte zum aktuellen Sondergipfel NATO-Generalsekretär Stoltenberg eingeladen, denn die Europäische Union will zwar ihre Verteidigung künftig stärker selbst in die Hand nehmen, allerdings ohne sich als Konkurrenz zur NATO aufzustellen. Da war es wichtig, dass Stoltenberg bei den EU-Mitgliedern für eine noch stärkere Zusammenarbeit mit dem transatlantischen Verteidigungsbündnis geworben hat. Denn immerhin leben ja mehr als 90 Prozent der Menschen in der Europäischen Union in einem NATO-Land und sind daher mit denselben sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert.

Die NATO ist darüber hinaus als Verteidigungsorganisation strukturell handlungsfähig und wird – anders als die EU - als Partner in der Weltpolitik ernst genommen. Da muss sich die EU nur als wirklicher sicherheitspolitischer Partner stärker sowie verantwortungsbewusster einbringen und könnte so gemeinsam mit der NATO mehr sicherheitspolitische Verantwortung Europas in der Welt wahrnehmen. Jegliche kostspielige Konkurrenz zur NATO aufgrund von aufwändigen Doppelstrukturen, Kompetenzüberschneidungen und unübersichtlicher Befehlswege, jegliche politische Relativierung der Bedeutung des transatlantischen Bündnisses ist in der aktuellen, nicht einfachen sicherheitspolitischen Lage von Ãœbel und der Sicherheit Europas abträglich. Die NATO überprüft und modernisiert gerade ihre Strategie, die EU will sich eine Strategie erarbeiten. Stoltenberg überarbeitet dabei das NATO-Konzept, die EU feilt an ihrem „strategischen Kompass“. Warum nicht pragmatisch, konsequent und effizient zusammenarbeiten für eine gemeinsame außen- und sicherheitspolitische Zukunft?

Denn solange die „Europäische Verteidigungsunion“ lediglich eine langfristige, gute Idee ist, gibt es ein sicheres Europa angesichts der sicherheitspolitischen Lage auf absehbare Zeit nur mit der NATO und gegebenenfalls durch Rückgriff auf die nuklearen Fähigkeiten der USA. Deswegen ist es richtig, dass sich Deutschland dafür einsetzt, die Vereinigten Staaten auf lange Sicht in Europa zu halten. Denn die französische Vorstellung, dass Europa sich sicherheitspolitisch ganz auf eigene Füße stellen kann ist und bleibt Illusion!

Die EU muss handlungsfähig werden und darf nicht im Dauerkrisenmodus verharren. Dazu muss die EU ihre Struktur grundlegend ändern und darf sich nicht überdehnen. Gleichzeitig darf die EU sich nicht abschotten, sondern muss eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit einer tiefer integrierten Kern-EU mit europäischen Partnern auf der Grundlage von Verträgen gewährleisten. Die NATO ist da ein verlässlicher Partner – und die USA sind wieder Partner!

(26.02.2021)

 

http://www.hansheinrichdieter.de/html/nato-aufbruch.html

http://www.hansheinrichdieter.de/html/hochstaplerischerillusionist.html

 

 

nach oben

 

zurück zur Seite Klare Worte