Hans-Heinrich Dieter

Todesangst?   (06.11.2013)

 

Der ISAF-Einsatz in Afghanistan dauert noch knapp 14 Monate - Ausmaß des Erfolges, bzw. der Niederlage offen, Folgemission ungewiss!

Naiv und blauäugig haben Politiker im Rahmen von Petersberg-Konferenzen - und wenn immer sich ein Mikrofon öffentlichkeitswirksam nutzen ließ - die Hoffnung verbreitet, das zentral-asiatische und teilweise in mittelalterlichen Strukturen verhaftete islamische Afghanistan ließe sich in absehbarer Zukunft in eine funktionierende Demokratie mit guter Regierungsführung, effizienter Verwaltung und einsatzfähigen Sicherheitskräften entwickeln. Und um dieses Bild aufrechtzuerhalten wurden Lageberichte auch schon mal erheblich geschönt.

Die afghanische Realität sieht ganz anders aus. Im Rahmen der letzten Verteidigungsminister-Konferenz der NATO sagte Minister de Maizière: „Ich will nicht drumrumreden – die Sicherheitslage ist nicht so gut, wie wir sie uns in diesem Jahr erhofft haben.“ Das ist nur diplomatisch ehrlich und deswegen nicht sehr aussagekräftig.

Tatsächlich haben sich die erheblichen westlichen Investitionen seit 2001 leider nur sehr unzureichend ausgewirkt. Der innerafghanische Versöhnungsprozess steckt noch in den Kinderschuhen, Erfolg völlig offen. Die Taliban haben weiterhin in vielen Landesteilen die Initiative und terrorisieren die afghanische Bevölkerung. Darüber hinaus ist Afghanistan weiterhin mit vielen Problemen konfrontiert, die nicht militärisch zu lösen sind, aber die Sicherheitslage beeinflussen. Die Wirtschaft ist unzureichend strukturiert und noch nicht leistungsfähig. Die Korruption ist nicht im Griff, die Verwaltung und die Justiz sind ineffizient, die Schlafmohnernte und damit der Drogenhandel werden 2013 wohl Rekorde erreichen und mit Karsai ist gute Regierungsführung nicht möglich. Sein Nachfolger wird hoffentlich eine deutlich höhere politische und moralische Qualität aufweisen. Von demokratischen Verhältnissen ist Afghanistan meilenweit entfernt. Und die Afghanen wollen zwar eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, aber nicht nach westlichem Vorbild leben.

Man darf außerdem sehr skeptisch sein, ob die geforderte „ausreichende Sicherheitslage“ bis Ende 2014 gewährleistet werden kann. Der geplante Umfang der afghanischen Sicherheitskräfte in Größenordnung 352.000 ist quantitativ zwar erreicht und die Sicherheits-Verantwortung ist übergeben. Die Qualität lässt aber noch sehr zu wünschen übrig. Die Truppe zeigt sich bisher vielfach unzureichend diszipliniert und auch wenig zuverlässig. Man kann nur schwer abschätzen, ob diese Qualität bis Anfang 2015 so gesteigert werden kann, dass Afghanistan wirklich selbständig für seine Sicherheit sorgen kann. Und wenn legitimierte und an der Macht beteiligte Taliban später einmal ihren prozentualen Anteil an den Sicherheitskräften stellen sollten, wird sich deren Zuverlässigkeit nicht steigern. Derzeit sterben etwa 100 Soldaten und Polizisten der afghanischen Sicherheitskräfte pro Woche. Das ist sehr viel für ein Land, das man eigentlich befrieden wollte.

2009 kämpften etwa 29.000 Taliban-Islamisten in Afghanistan. Seit 2010 haben US-Spezialkräfte und Kampfdrohnen Hunderte von Taliban ausgeschaltet. Heute kämpfen am Hindukusch geschätzte 37.000 Taliban gegen die Sicherheitskräfte und terrorisieren die afghanische Bevölkerung. Die Terroristen sind nun meist jünger aber fanatischer. Leistungsfähiger Nachwuchs ist offensichtlich verfügbar. In Pakistan wurde zum Beispiel jetzt der Talibanführer Mehsud durch US-Drohnen getötet, sein Nachfolger ist bereits im Amt, hat die Führung von ungefähr 30 Terrorgruppen übernommen und kann auf eine lange Liste von Erfolgen im verbrecherischen Terroristengeschäft verweisen. Die Lage ist also weit schlechter als erwartet. Und "Hoffnung" ist in solchen Zusammenhängen nicht die richtige Kategorie. Das wird den Zeitplan der NATO aber nicht beeinflussen. Die ISAF-Truppe wird, wie geplant und den Taliban bekannt, ausgedünnt und beteiligt sich nicht mehr direkt an Kampfeinsätzen. Ein Stützpunkt nach dem anderen wird an Afghanen übergeben und "Ortskräfte" werden freigesetzt.

Viele dieser afghanischen „Ortskräfte“, die etwa als Dolmetscher oder Hilfskräfte für die ISAF-Truppen gearbeitet haben, vertrauen dem eigenen Staat, der Sicherheitslage und auch Teilen ihrer afghanischen Mitbürger offenbar nicht. Sie haben Angst und stellen Asylanträge oder bitten um Ausreise in NATO-Staaten. Sie fürchten um ihr Leben und das ihrer Familien, sicher in einigen Fällen wohlbegründet. Das lässt einen realistischen Blick auf das Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte zu.

Für Asyl und Einreise nach Deutschland gelten Regeln und Kriterien, die erfüllt sein müssen. Bisher hatten nur wenige Antragsteller die Kriterien erfüllt und Einreisegenehmigungen waren - nach langwierigen Prüfungsverfahren - Ausnahmen. Nun sollen insgesamt 182 afghanische Helfer mit Familien nach Deutschland ausreisen dürfen - die meisten von ihnen hatten im jetzt aufgegebenen Feldlager Kundus als Dolmetscher oder Sicherheitsposten gearbeitet. Es heißt, man habe die bürokratischen Hürden reduziert. Das ist keine geringe Belastung für Deutschland. Und bei den 182 afghanischen Familien aus dem Raum Kundus wird es nicht bleiben, denn auch das Camp Marmal in Masar i Sharif wird stark reduziert und damit eine große Zahl an Ortskräften freigesetzt werden. Deswegen ist das gut klingende "Herabsetzen bürokratischer Hürden" nicht der richtige Weg. Für die Gewährung von Asyl und für die Einreise mit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung müssen auch für afghanische Ortskräfte die Regeln und Kriterien gelten.

Die Ortskräfte haben in Kenntnis der Lage einen Arbeitsvertrag mit der Bundeswehr geschlossen und in den langen Jahren vergleichsweise sehr viel Geld verdient. Wenn die Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Kräfte übergeben ist, haben die für die Sicherheit der afghanischen Bürger zu sorgen. Nicht eindeutig nachweisbare "Gefährdungen" können keine Grundlage sein für weitgehende Ausnahmen von den Regeln. Die jetzt geschaffenen Präzedenzfälle werden uns noch erheblich zu schaffen machen. Was ist mit den vielen afghanischen Geschäftsleuten, die für die Bevölkerung erkennbar durch "Kollaboration" gut an der Bundeswehr verdient haben. Angeblich sind außerdem für diejenigen ehemaligen Ortskräfte, die in Kundus bleiben wollen oder müssen, finanzielle Abfindungen ins Auge gefasst. Wenn tatsächlich Todesangst aufgrund von tatsächlichen Todesdrohungen vorliegt, wird man sich doch nicht freikaufen wollen. Und wenn Taliban Landsleute, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, töten wollten, dann hatten sie bisher hinreichend Gelegenheit dazu. Hier ist nüchternes an den Regeln orientiertes Augenmaß gefragt und nicht falsche Großzügigkeit aufgrund von ideologischem oder moralisierendem Mediendruck.

Von einem Erfolg des intensiven Engagements der westlichen Welt in Afghanistan kann also weder politisch noch militärisch wirklich die Rede sein. Afghanistan muss Souveränität und Verantwortung für die Sicherheit des Landes und seiner Bevölkerung nicht nur fordern, sondern nun auch mehr und mehr eigenständig gewährleisten. Diese Verantwortung können und wollen wir über 2014 nur in begründeten Ausnahmefällen schultern.

Die afghanische Bevölkerung hat lange unter den Sowjets, den Taliban und der korrupten Regierung Karsai gelitten. Wenn allerdings heute nicht geringe Teile der afghanischen Bevölkerung die westlichen Truppen für Besatzer halten und die Taliban sich relativ frei in der Bevölkerung bewegen können, dann zeigt das, dass die Zukunft Afghanistans eher in einem neuen islamistischen Emirat zu liegen scheint als in einer sich entwickelnden Demokratie. Und das ganze geschundene afghanische Volk - nicht nur möglicherweise die eine oder andere Ortskraft - wird absehbar von den Taliban weiter terrorisiert werden und hat nur wenig Grund zur Hoffnung auf ein freies und selbstbestimmtes Leben. Daran wird auch die Unterstützung der NATO ab 2015 nur wenig ändern können.

(06.11.2013)

 

 

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